laut.de-Kritik
Die Wiege des Melodic Hardcore.
Review von Steffen EggertAls sich Ende der 1970er Jahre vor allem in den USA das Genre des Hardcore Punk manifestiert, gibt es in der Folge meist nur eines: Hart aufs Maul. Bands wie Black Flag oder die Dead Kennedys stechen mit einfachen, schnellen Songs und politisch geprägtem Liedgut hervor und sparen gerne an Harmonie zugunsten der kompromisslosen Härte. Nur kurz später empfinden dies einige junge Leuten im sonnigen Kalifornien offenbar als zu krude, und es finden sich plötzlich überaus eingängige Melodien im Sound der Punker ein. Der Melodic Hardcore, oft auch Melodycore erblickt das Licht der Welt, und Irokesen und Skateboarder scheinen gleichermaßen aus dem Häuschen zu sein.
Bereits 1978 von Tony Lombardo, Frank Naveta und Bill Stevenson gegründet, finden Descendents erst 1980 mit Sänger Milo Aukerman ein würdiges Aushängeschild. Seines Zeichens heute Doktor der Biologie und namhafter Wissenschaftler, schwankt Aukerman zu der Zeit stets zwischen Karriere und Band. Nach der innerhalb der Szene viel beachteten "Fat EP" (1980) und noch vor Veröffentlichung des ersten Albums verlässt Aukerman die Band, weshalb die Descendents den Erstling treffenderweise "Milo Goes To College" nennen. Auf dem Cover eine Karikatur des stets bebrillten Frontmanns, die später zum Bandmaskottchen werden wird.
Was in den knapp 23 Minuten dieses immergrünen Werkes passiert, trotzt sicherlich jeder Beschreibung. Alle Bandmitglieder dürfen Songs schreiben, weshalb sich verhältnismäßig viele verschiedene Themen in den Stücken finden. Bereits der Opener "Myage" macht klar, wohin die Reise geht. Rasende Hardcore Punk-Riffs, einige fast schon komplexe Kennedys-artige Licks und die furchtbar angepisste, kratzige, jugendlich-wütende Stimme Milos. Obwohl die meisten der Bandmitglieder klar als blutjung durchgehen, scheinen hier bereits auf den ersten Blick durchaus versierte Musiker am Werk zu sein. Allein das virtuose Bassspiel in Verbindung mit den stets wandelfähigen Drums sticht sofort ins Ohr.
Jugendtyisch finden sich einige Heartbreak- oder Lovesongs unter den meist unter der Zwei-Minuten-Marke liegenden Tracks. Mal geht es um das Verlassenwerden, das beispielsweise im bitter-zynischen "Bikeage" behandelt wird, oder gar um eher postpubertäre Vorstellungen einer gutbürgerlichen Zukunft ("Marriage"). Weitere, klare Indizien für ein insgesamt sehr niedrige Durchschnittalter der Bandmitglieder finden sich im eigentlich richtig geilen, hyper-melodischen "I'm Not A Loser", einem lupenreinen Punksong. Gegen Ende fallen einige durchaus als homophob einzuordnende Begriffe, die man sicherlich in der heutigen Zeit nicht mehr so arglos verwendet hätte. Da aber eigentlich das komplette Album nur vor Zynismus strotzt, könnte man auch von einer bewusst überspitzten, von einer dritten Person ausgehenden Tirade ausgehen.
Zwar zeigen sich die meisten der Songs bezüglich des Stils eher einheitlich, dennoch finden sich auf den zweiten Blick mehrere Reminiszenzen an andere Richtungen. Das inhaltlich zwar ganz leicht albern geratene "Parents", ein Mittelfingerzeig an das Elternhaus, klingt deutlich düsterer und erinnert an den seinerzeit aufkommen Post-Punk. Das emotionale, durchaus harmonisch anmutende "Hope" könnte durchaus als einer der Zündfunken für den bald sehr populären Emo-Core angesehen werden und überrascht an der Stelle mit vollen, klingen Akkorden. Ähnlich wie ihre Buddies von Bad Religion verfeinern die Descendents den klassischen Hardcore Punk durch doppelstimmigen Gesang und melodische Shouts.
Politischen Themen begegnen die Descendents sehr erwachsen und entwaffnend zynisch. Zeitlos und aktueller denn je nehmen sie auf "M-16" das in ihrem Lande geltende "right to bear arms", also das Waffenrecht aufs Korn. Bitterböse wird der Amerikanische Traum mit einem für die Demokratie notwendigen Töten in Einklang gebracht, während Aukerman die Worte ausspuckt, als seien sie hochgiftig. Nicht weniger zynisch, aber etwas gemäßigter stellen sie in "Statue Of Liberty" die Frage, warum ihre Nation dieses Wahrzeichen verdient hat, und vermuten eine reine Touristenattraktion dahinter.
Der Spaß kommt letztlich nicht zu kurz, spätestens mit dem astreinen Klassiker "Kabuki Girl", einer Liebeserklärung an fernöstliche Frauen und die Wunderlichkeit ihrer Bräuche, oder dem beinahe für sich selbst sprechenden "I Wanna Be A Bear". Dort heißt es "You'll get old and have a wrinkled ass", was verschmitzt und jugendlich arrogant daherkommt, aber letztlich nicht völlig zutrifft. Weder das Album, noch die Band hat je an Relevanz verloren, und wer in den letzten Jahren eines ihrer Konzerte besucht hat, dürfte Zeuge ihrer immer noch jugendlichen Energie geworden sein.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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