laut.de-Kritik
Album des Jahres? Schon eher: Stagnation und Banalitäten.
Review von Philipp KauseDem Hochsicherheitstrakt von Atlantic Records entschlüpfte mit "Play" ein neues Ed Sheeran-Album, dessen Stil-Mischmasch die Singles bereits erahnen ließen. Die Plattenfirma übte sich zugleich in höchster Geheimhaltung und schwärmte im Vorfeld vollmundig von einem "der prägendsten Popalben des Jahres". Sogar "aufregend, transformativ und ein klarer Anwärter auf das Album des Jahres". Die Realität: Bezüglich ihres künstlerischen Ausdrucks sammelt die Platte vor allem Schwachpunkte, stimmlich, textlich, thematisch, dramaturgisch, klanglich, technisch. Und sie hat dazu ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Sicher, "prägend>" war während der Ankündigungs-Phase schon der weltweite Einfluss, den die Global Pop-Singles "Azizam" und "Sapphire", aber auch die eher handelsübliche Nummer "Old Phone" ausübten: Der Engländer erreichte förmlich alle Kontinente, bis in den letzten Winkel, die man gegen 'westliche' Sounds immun eingeschätzt haben mag. Sogar in den Radioprogrammen in Belarus schlich sich Ed ein. "Old Phone" wurde zum Hit in Bolivien und großen Teilen Lateinamerikas, ebenso von Nordmazedonien über den Libanon bis Südkorea, Neuseeland.
"Sapphire" setzte sich in den Vereinten Arabischen Emiraten an die Spitze der Charts - und so auch in Indien, ein Novum für Sheeran. Diesen persönlichen Rekord verdankte er der Beteiligung eines indischen Sängers, wobei indische Instrumente interessanterweise noch auf anderen Songs des Albums zu hören sind. Tabla und Sitar kennt man spätestens seit George Harrison auf "Revolver". Dagegen ist die Santoor-Zither in Europa weniger vertraut.
Vom zweiten bis sechsten Track der LP finden sich eine ganze Reihe Schlaginstrumente indischer, persischer und karibischer Herkunft. Auf vier Tracks greift zudem ein Bambusflötist ein. Ein neues "Revolver" hat der traurige Storyteller an der Klampfe mit "Sapphire" jedoch nicht erschaffen, sondern ein langweiliges Verkaufsgespräch in Form eines Monologs, der beim Videoclip zu "Old Phone" kurz zum Dialog wird.
Jener Song hat die älteste Geschichte auf "Play". Der Songwriter musste vor Gericht über einen vermeintlichen Klau Rechenschaft ablegen, er soll eine Akkordfolge verwendet haben, die in Marvin Gayes "Let's Get It On" zu vernehmen ist. Vor Gericht gewann Sheeran, er habe eine gängige Akkordfolge verwendet.
Die gegnerische Partei hatte zuvor verlangt, alle Smartphone-Inhalte von Sheeran aus jener Schaffensphase auswerten zu lassen. Das betroffene bis 2015 verwendete Gerät legte Ed auch tatsächlich vor - und machte aus der Not eine Tugend: Wieder entdeckte Fotos und Videos erinnerten ihn an Menschen, zu denen der Kontakt abgebrochen war, und er verfasste einen Song darüber.
Ein gefundenes Fressen für die Fans. Sie überhäuften den Sänger in einem Pop-Up-Pub in Massachusetts ihrerseits mit Material aus alten Handys - der Stoff für ein neues Musikvideo. Eine Episode, die Ed Sheerans Welt trefflich zusammenfasst. Die oberste Grundregel lautet, dass alles eine Otto Normalverbraucher-Komponente haben muss. So besitzt nun mal fast jeder ein altes Handy mit komischem Zeugs drauf, dem man rückwirkend Sinn abtrotzen möchte. Tatsächlich ist der Song einer der besten des Albums.
Die Kamera bleibt in "Camera" im Mittelpunkt, gipfelnd im kalauerhaften Kompliment "I don't need a camera, when you're in my eyes." Das Telefon mit seiner fast vergessenen Möglichkeit des Telefonierens spielt in "For Always" eine Schlüsselrolle: "And I'll try my best to hold you through the phone - through your mountain high highs and valley lows." In Sheerans Texten, auch wenn sie oft Leichtigkeit und Party vermitteln sollen, hängt alles am magischen Ich.
Der Autobiograph Ed ist der Retter, "whether I'm by your side or a thousand miles away." Er vermag zu trösten, Erinnerungen zu wecken, Wahrheit zu definieren, und er führt uns zuverlässig ins Happy-End. Bei "A Little More" ist das zum Beispiel eine unwirkliche Hochzeit, bei der ein ehemaliger Häftling nach Entlassung aus dem Knast vor den Traualtar tritt. Immerhin: ein bisschen Augenzwinkern ist dabei. Oft bleiben die Texte jedoch staubtrocken. Und kommen vielleicht gerade deshalb gut an: Das Liebeslied "In Other Words" wird trotz simpelster Wortwahl auf YouTube von Usern zum Hochzeits-Glücksbringer erkoren.
Überhaupt verpackt der Brite in seinen Songtexten sattsam Bekanntes neu. "We'll explode in this space", heißt es in einer dümmlichen Strophe von "Symmetry", "your colour's exploding", schleimt Sheeran bezüglich seiner Partnerin in "Camera" - "tiefgründige Lyrics" laut Label. "We're imploding into dust", berichtet der Sänger in "Don't Look Down", während in "Heaven" Chemikalien in die Luft fliegen, "chemicals bursting exploding".
Inmitten all der Explosionen nehmen wir eine genauer unter die Lupe: "We'll explode in this space / feel the glow of the flame / tracing roads straight from the neck, down to your waist / Kill control - let it play." Hört sich nach Softporno an. Das übliche Drumherum über die Nähe von Liebe und Hass, über Tränen und Ängste, Tod und Verlust, Zuversicht und Hoffnungslosigkeit, Familie und Freunde usw. Der thematische Radius bleibt übersichtlich. Zum Phrasengedresche in "A Little More" liest man in der Bedienungsanleitung, es gehe um "Selbstfürsorge, innere Stärke und den Mut für das Richtige einzustehen."
Die Anordnung der Stories soll eigentlich eine klare Dramaturgie vorgeben. 2022 befand sich der Singer/Songwriter in einer Lebenskrise: Seine Frau Cherry war zwar schwanger, aber auch schwer krebskrank. Die Behandlung war vor der Niederkunft unmöglich. Man kann sich Sheerans Gefühllage vorstellen. Dann starb sein Bruder, die Oma kurz darauf. Die harten Erfahrungen zwischen Kreißsaal, Begräbnis und OP-Tisch hinderten Sheeran nicht am Touren und Songs schreiben, aber dieses Kapitel soll nun endlich geschlossen werden. "Opening" greift diese dunkle Phase auf, während alle weiteren Songs dazu da sind, verschiedene Kulturen, Orte und Momente der Freude zu feiern.
Dieser thematische Spannungsbogen misslingt gleichwohl, da insgesamt zu viele Balladen stattfinden. Konsequenz ist keine Stärke von "Play". Sonst würde auf die Northern Soul-Anleihen im vorher ausgekoppelten "A Little More" womöglich etwas Adäquates folgen. Die üppige Instrumentierung in "For Always" würde kein zusätzliches Synth- und Drum-Programming benötigen, das sich über Kastagnetten, Congas, Flöte und eine voll ausgestattete Rockband stülpt.
Die Ethnopop-/Worldbeat-Ideen zu Beginn würden nicht vorschnell versanden. Gerade Symmetrie, wie die Scheibe sie in "Symmetry" thematisiert, geht diesem Album ab. Auch wenn sich das Label die "überraschenden Verbindungen zur irischen Folk-Tradition" seitens Bollywood-Einsprengseln und zwischen Irland und dem fröhlichen persischen Ausflug "Azizam" schönredet und "eine Art grenzenlose Musiksprache" wittert. Einen roten Faden gibt es nicht. Drei verschiedene Varianten mit Bonus-Tracks verwässern die Dramaturgie weiter und verwirren.
Vielleicht hat der Künstler angesichts der vielen Mitwirkenden und im Geflecht seiner bereits angeteaserten künftigen Alben namens "Pause", "Stop", "Rewind" und "Fast Forward" den Überblick verloren. Die Vielzahl der Release auch in schwierigen Zeiten ("Autumn Variations") hinterlässt einen manischen Eindruck. Man darf sich von der folky Authentizität nicht blenden lassen: Das Thema Arbeit, Geldverdienen, Investieren ist das wichtigste am Produkt Ed Sheeran.
All seinen Gastmusikern bescheinigt er in einem NDR-Interview "harte Arbeit", ohne gehe es nicht. Manche Leute tauchen nur auf einem Track auf, wie Starbassist Pino Palladino in "Old Phone" oder Dumpstaphunk-Trompeter John Michael Bradford in "A Little More". Umgekehrt ist außer Sheeran niemand in jedem Track dabei. Zwei Mal, in "Symmetry" und "Slowly", liegen je zwei akustische Gitarren übereinander: von Ed selbst und von Multikönner Johnny McDaid. Sheerans Wurzeln kommen zum Vorschein. Wer von den vielen Beteiligten zu welchem Anteil beteiligt ist, auch im Bereich des Komponierens und Produzierens, ist diesmal recht heterogen aufgebaut.
Beim Gesang zeigt Sheeran indes so harte Arbeit, dass sie nur mehr bemüht und strebsam wirkt und nicht mehr spannend klingt. In "Opening" und "A Little More" rappt Ed passagenweise. In "Heaven" benutzt ausgerechnet er, der Barde, einen Vocoder-Effekt und erinnert außerdem ans Acapella-Intro von "Road To Nowhere" denken. Das übersteuerte "Slowly" soll wohl inbrünstig sein, hört sich aber erstaunlich hilflos an.
In "Camera" eiert der Gesang trotz des einfachen Textes und der simplen Melodie willkürlich vor sich hin. Viele Vocals auf "Play" wirken nölig, unsicher, plakativ, wie unter Zeitdruck aufgenommen, teils schrill, bisweilen näselnd, kippelig und manchmal übertrieben megaphonartig. Da reißt die Tatsache, dass sich Sheeran extra etwas Punjabi und Hindi antrainierte, kaum mehr etwas heraus. Die Exotik von Weltmusik fungiert hier als Eigenlob.
Lobt die Albumpromo, "A Little More" punkte mit "einem Sound, der sich an bluesige Elemente anlehnt", liest sich dies wie frei erfunden, sobald man das Lied hört. Immerhin existiert abseits des Albums noch eine Unplugged-Fassung. Die Afrobeats entliehenen stumpfen Percussions von "Symmetry" lassen in Nigeria aufhorchen, wo Sheeran auch in die Charts kam, die eingebauten Tablas zitieren Indien. Micky Maus-Vocals im Background, Folktronic-Nachhall und repetitiver Eurodance: Viele Zutaten ergeben noch kein gutes Mahl.
Auch technische Abmischung bleibt mäßig. Die meisten Ausflüge von Major Lazer in Richtung Moombahton sorgten für mehr Fernweh. Die Soft-Trance-Beats in "Don't Look Down" beweisen ESC-Tauglichkeit. Diese Schmuseballade zappelt umrahmt von flächigen Synthspuren auf der Stelle. Ein bisschen Akustikgitarre deutet die Sehnsucht nach Authentizität an.
Den "unverwechselbaren, modernen Twist", wie ihn Atlantic Records hört, sucht man vergeblich. Statt Leidenschaft und Originalität regieren Zweckmäßigkeit, Stagnation und Banalität. "Play" ist vor allem gut im Erregen von Aufmerksamkeit - und nur deshalb ein Anwärter für die Bestenlisten des Jahres.
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