laut.de-Kritik

In zeitlosem Schmerz eingeschmolzen.

Review von

Neunzehnhundertdreiundachtzig – was für ein Jahr: Hitler-Tagebücher. Die Grünen erstmals im Bundestag. Das deutsche Zündwaren-Monopol endet. Ulf Merbold fliegt ins All. Björn Borg tritt zurück. Wer wird Deutscher Meister? H-H-H-HSV. Echt jetzt. Und im Fernsehen zeigt uns Peter Illmann die weite Welt der Videoclips. Dass Einstürzende Neubauten ausgerechnet in "Formel Eins" zu sehen sind, also dort, wo sich in jenen Wochen KajaGooGoo, die Thompson Twins und Nena tummeln, erweist sich als televisionäres Großereignis mit dekadenlangem Nachhall.

Zumindest bei einigen ZuschauerInnen, den Autor dieser Zeilen eingeschlossen. "Hospitalistische Kinder/Engel der Vernichtung" heißt der Song, zu sehen ist ein herrlich verworrener Clip, irgendwer wälzt sich sich im Matsch, trägt Eisenkugeln an den Fußgelenken. Die Musiker zerdöppern Filmdosen, Ort des Geschehens ein verrauchter Schrottplatz. Blixa steigt schließlich vom Monte Klamotto herab, in Leder und Latex gehüllt, spiddeldürr, erhaben wie ein todessehnsüchtiger Hahn. "Hab' meinen Verstand begraben", greint er, während sich die titelgebenden Kinder im Off unterhalten, sich gleichsam verwunschene Satzfetzen zuwerfen.

"Die Zeichnungen des Patienten O.T." heißt das Album zum Song, von Januar bis August in London, Berlin und Hamburg eingespielt, erschienen am 21. November 1983 auf Some Bizzare Records. Zwei Jahre haben sich die Neubauten nach ihrem Debüt "Kollaps" Zeit gelassen, schließen dabei passgenau an den Lärm der Gründungstage an. O.T. steht für Oswald Tschirtner. Der 1920 geborene Österreicher war völllig traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, im Rahmen seiner Therapie wird er zum Zeichnen ermutigt, seine Zeichnungen gelten als prägende Kunstwerke der sogenannten Art Brut. Bargeld liest von Tschirtner, sieht Zusammenhänge zwischen dessen Stil und Bassist Mark Chungs Art, die Arrangements der Neubauten-Stücke als Strichlisten aufzuschreiben.

Das Stück selbst, "Hospitalistische Kinder / Engel der Vernichtung", ein liedgewordener Hybrid aus chinesischer Wasserfolter und Wurzelbehandlung bei einem halluzinierenden Dentisten, fügt sich in ein Album, das keinen Verweilmoment bietet, nur Nagelbett und schiefes Gestühl, umgeben von flackernden Blicken und Verfolgungswahn: programmatisch das Stück "Finger und Zähne", eine Miniatur, die genau das bietet: Fingerknacken und Zähneknirschen.

Auch sonst ist das alles klangliches Unbehagen, alles feiert den Rausch, die Zerstörung, das Falsche im Falschen. "Vanadium-I-Ching" ist Klangschalen-Terror für die neunte Nacht am Stück ohne Schlaf. "Abfackeln" klingt wie eine Gruppe von Bauarbeitern, die mitten im S-Bahn-Verkehr die Gleise zerlegen, während die Züge vorbeirattern. "Neun Arme" wirkt dagegen fast schon medidativ, jedenfalls so lange, bis auch hier die Stahlstangen wie eine aus dem Ruder gelaufene Mikado-Partie der IG Metall reinklimpern. "Die genaue Zeit" ist Audio-Puzzle mit Standortbestimmung: "Alles wird Muzak, alle werden gleich. Wie spät mag es sein? Die Macht ist ein laufendes Band. Und meine Ohren sind Wunden".

Drei Stücke gilt es hervorzuheben: Der Titeltrack "Die Zeichnungen des Patienten O.T.", mit Chungs urban-funkigem Bass, eine der ganz wenigen 'musikalischen' Stellen der Platte, zudem ein Vorgeschmack auf das Brett "Yü Gung", das wenige Jahre später eine Schneise in die Indie-Discos des Landes ziehen wird. Und natürlich "Armenia", ein orchestrales Schwären, das zunächst eisern pulsiert, dann von einem teerschwarzen Klang nach Streicher-Art überzogen wird, finster, infernalisch, die Hölle ist ein Autobahn-Brückenpfeiler, darin Bargeld, der nicht nur innerliche Eruption spürt, sondern gleich noch den Weltuntergang erahnt, oder sollte man besser sagen: herbeisehnt? "Sind die Vulkane noch tätig?", die Frage aller Fragen.

Vollends verdunkelt sich jedoch die Sonne mit der Tonband-Collage "Merle (Die Elektrik)". Das Mädchen aus dem Titel heißt Merle Seroka. Die 13-Jährige aus Schellhorn in der Nähe von Preetz in Schleswig-Holstein verschwindet 1982 spurlos und wird später ermordet aufgefunden. Die Polizei veröffentlicht den anonymen Anruf eines Mannes, der vorgibt, ihr Mörder zu sein. Einer von vielen Trittbrettfahrern, dessen Stimme und das Gesagte jedoch noch finsterer klingen, als Blixa Bargeld selbst es wohl je könnte: Kennen Sie eine Merle? Kennen Sie eine Merle?, das diabolische Mantra, dazu Satzfetzen wie "Sie wird auch nicht länger durchhalten", unterlegt von Eisensägen, drohnenartigem Ambientsound und einem wie durch den Telefonhörer aufgenommenen Pulsschlag.

Mit dem Nachfolger "1/2 Mensch" gewinnt Mitte der 80er zunehmend das Theatralische, die Überhöhung im Gestus der Einstürzenden Neubauten an Gewicht. Die Gehörgänge sind durchgespült, Krach-Sender und Krach-Empfänger haben sich einander angenähert, auch die Sinneshärchen sind mittlerweile perfekt toupiert. "Die Zeichnungen des Patienten O.T.“ funktioniert noch aus dem Bauch, dem mageren, heraus, die Lust am Lärm, am Schrei, am Kippen der Stimme, dem Metall auf Metall, die Klänge entspringen einer Ursuppe, mal zähfließend wie Lava, dann wieder spitz und kreischend wie ein Dekaden andauernder Tinnitus.

Ein Album, für das es Durchhaltevermögen braucht, ein in kakophonisches Katzengold gekleidetes, meisterhaftes Opus zwischen Schmerz und schlimmerem Schmerz.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Vanadium-I-Ching
  2. 2. Hospitalistische Kinder / Engel der Vernichtung
  3. 3. Abfackeln!
  4. 4. Neun Arme
  5. 5. Herde
  6. 6. Merle (Die Elektrik)
  7. 7. Zeichnungen des Patienten O.T.
  8. 8. Finger und Zähne
  9. 9. Falschgeld
  10. 10. Styropor
  11. 11. Armenia
  12. 12. Die genaue Zeit

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1 Kommentar mit 19 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    So es ist offiziell eine Band darf zwei Meilensteine haben! 1/2 Mensch war ja auch schon ein Meilenstein hier. Gibt genügend Bands die zwei Meilensteine veröffentlicht haben. Was wären eure zweit Kandidaten für Meilensteine meins wäre momentan Genesis Invisible Touch.

    • Vor 3 Jahren

      Öhm, Herr Inspektor - also erstens hätte der Herr Robert Zimmerman bereits seit einiger Zeit einen zweiten Meilenstein auf seinem laut.de-Konto zu bieten.
      Und zweitens ... "Invisible Touch"? ... *brrr*
      Gruß
      Skywise

    • Vor 3 Jahren

      Bob Dylan wird überbewertet.
      Das ist an mir vorbei gegangen weil ich nur Meilensteine lese die mich interessieren.
      Ok dann eben die Wind and Wuthering.

    • Vor 3 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 3 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 3 Jahren

      Klaus Schulze

    • Vor 3 Jahren

      Fließende Grenze zwischen Genial (Blume,...) und unanhörlich und was soll das?
      Enthalte mich.

    • Vor 3 Jahren

      Genesis "Invisible Touch" als Meilenstein und ich bin hier weg ;-)

    • Vor 3 Jahren

      Massive Attack haben u.a. auch schon was länger zwei...

    • Vor 3 Jahren

      Jane's Addiction haben immer noch keinen. Ist echt ne Schande :mad:

    • Vor 3 Jahren

      Seconded, @Schwingo.

      Navarro latürnich ein Poser-Gitarristen-Icon aus der absoluten Hochphase der schlimmsten Hairstyle- und Posergitarristen aller Zeiten und bis heute immer gerade so ein Quantum mehr Poser als Trottel vorm lieben Gott geblieben, weil eben Poser mit beachtlicher Basis.

    • Vor 3 Jahren

      No shit, ich liebe Dave Navarro. Ich finde seinen Style und seinen Sound bis heute großartig, egal ob bei JA, RHCP oder Deconstruction. Großartiger Dude, der viel mehr machen sollte

    • Vor 3 Jahren

      Trifft für mich aber eigentlich auf alle JA-Mitglieder zu

    • Vor 3 Jahren

      Hab mich hier und anderswo schon oft sehr unbeliebt mit dem Statement gemacht, dass "One Hot Minute" bis heute mein Lieblings-Peppers-Platte ist, aber #isso.

      Kann das reduziert-minimalistische Spiel von Frusciante schon als eigenen Stil begreifen und respektieren, finde diese Herangehensweise aber z.B. wie von Gemma Thompson bei Savages umgesetzt sehr viel ansprechender.

    • Vor 3 Jahren

      Für nen Typen, dessen musikalischer Horizont bis heute nie über den verranzten ravioliverschmierten und doch irgendwie übrig gebliebenen Papptellerrand von nem 90er-Jahre Bizarre Festival hinausging, gibt's bei der Angelegenheit streng genommen wenig bis nichts zu lachen, selbst mit Peppers-Fanboi-Pin an der Schiebermütze nicht.

    • Vor 3 Jahren

      Ja, Sorry aber bei One Hot Minute hört der Spaß wirklich auf. Da darf auch ICH mal lachen, mein Lieber.

    • Vor 3 Jahren

      Mir fehlt da auch schon immer die Fanbrille, Peppers und insb. Flea gehen schon immer mehr technisch denn emotional an mich. Auch weil du für das Geld zusätzlich immer schon das Risiko hattest, dass Kiedis die gesamte Show nicht einen einzigen Ton trifft, aber gleichzeitig gerade zu jetgelagt, vollgedröhnt oder whatever ist um wenigstens ersatzweise zu entertainen live...

      Denke v.a. wenn sich die Peppers-Hardcorehörnchen da mal lockerer machen könnten und die "OHM" eben als ein Brücken- oder Seitenschritt-Album/Nebenprojekt betrachten könnten, bis der Frusciante halt wie alle Jahre wieder ne halbe BT-Klinik in seinen H-Body abgepumpt hat um durch diese klassische Rollstein-Richards-Rochade überhaupt erst wieder fit genug für irgendwas bandmäßiges zu werden, würde den meisten von ihnen aufgehen, dass die Gitarren-Stile von Navarro und Frusciante vergleichen ungefähr das Äquivalent zur Frage darstellt, ob mensch von heute an bis zum Lebensende lieber auf Feuer verzichten würde um dafür aber immer gute Erde griffbereit parat zu haben oder umgekehrt...

      Aber dazu müsste die Fanbrille halt auch erst mal wieder länger als einen Durchlauf "OHM" von der Nase runter bewegt werden können, und die ist halt bei dir mit einem Glas LB und dem anderen RHCP schon Jahre ins Nasenbein eingewachsen, so wirkt's zumindest...

    • Vor 3 Jahren

      Fleas bester Beitrag zur Welt der 4-5 dicken Saiten findet sich imho ebenfalls abseits der Peppers und die von der VISIONS-damals in Printausgabe wahrscheinlich unverändert von Bixlars Lippen übernommene Anekdote zur Entstehung gehört zu meinen liebsten überhaupt im hinterkulissigen int. Rock- und Musikzirkus...

      ...so sei nach dem At The Drive In-Split das Werk des neuen Projekts von C. Bixlar & O. Rodriguez-Lopez bereits bis auf Bass und paar Synth-Spielereien im Kasten gewesen, letztes Wochenende vor den finalen 5 gebuchten Studiotagen und ORL sollte wohl selber schon die Bass-Linien machen wollen, weil sie sich beim wiederholten Brainstorming immer einig waren, dass in den verbleibenden 5 Tagen kein (damals für sie bezahlbarer) Bassmensch "De-loused in the comatorium" für ihr neu geschaffenes MARS VOLTA-Projekt blicken, schmissig-passende Lines dafür komponieren und auch noch mit dem richtigen Verve fertig einspielen könne.

      Außer, haha, vielleicht gerade so Flea von den Peppers... Also haben sich CB und ORL sonntags ordentlich Mut angedröhnt, paar Kontakte gecheckt und sind tatsächlich irgendwie auf Fleas mobile angekommen. Dem sagten sie, dass den Umständen entsprechend das ganze nur als breit entstandener Hirnfurz bewertet werden könne, alle lachen und legen auf.

      Montag mittag soll Flea dann nochmal zurückgerufen haben, seinerseits scherzend, dass er einfach mal interessiert vorbeigejettet käm WENN denn für die verbleibende Studiozeit auch noch ausreichend "Party stuff" mit eingeplant und vorhanden sei. Dienstags abends sei er tatsächlich im Studio angekommen und sie haben sich vor Aufregung und Huldigung die ganze Nacht derbe zusammen abgeschossen. Mittwochs nachmittags nach viel Drängen habe ORL Flea dann mal die Pladde so far vorspielen dürfen und Flea fand's wohl echt gelungen und meinte danach er mache das mit dem Bass so lange der Party Stuff noch reicht, aber sie haben dann weiter Party gemacht bis Donnerstag mittag, wo sich Flea das Dingen noch ein weiteres Mal "konzentrierter" über Kopfhörer angehört und danach die 1,5-2 verbleibenden Studiotage "on the fly" die Bass-Lines für "De-Loused..." geschrieben und aufgenommen haben soll (bei von CL geschätzten 60-70% One- SOWIE First Takes für die jeweiligen Stücke auf der fertigen Aufnahme).

      Wer nur als "Hobby-Saiteninstrumentalist" die "De-loused..." mit dieser Story nach diesem Beitrag im Hinterkopf (erstmals) anhörte musste wahrscheinlich danach häufiger erst mal genau wie ich nach Hause gehen und seine Lebens- und Hobbyentscheidungen für eine längere Zeitspanne überdenken.

      Und dieser Platte mangelt's auch nach 18 Jahren weder irgendwo an der Technik noch am Gefühl/Verve aller Beteiligten. Ein zeitloser Genrebastard-Klassiker. :)