laut.de-Kritik

Soul, Bubble-Grooves und eine durchdringende Stimme.

Review von

Ein Song wie "Secret Lovers" hätte auch bei Boy George in den 80ern stattfinden können, einer wie "Tight Space (feat. Kabaka Pyramid)" auch anno 2000 bei Sonique. Die wohlvertrauten Harmonien in Etanas Stücken über romantische Liebe schöpfen aus Eingängigkeit und etablierten Kompositionsprinzipien für Popmusik mit karibischem Flair.

"Gemini", übersetzt 'Zwillinge', ist der sechste Longplayer der 36-jährigen Singer/Songwriterin, ihr fünfter war Grammy-nominiert. Sie gehört zu den weiblichen Aushängeschildern der jamaikanischen Musikszene und genießt einen hohen Bekanntheitsgrad in Europa und den USA. Jahrelang wurde sie regelmäßig für Tourneen hier wie dort gebucht.

Ähnlich wie Richie Spice, als dessen Backgroundsängerin sie vor 15 Jahren große Aufmerksamkeit erregte, pflegt sie recht konsequent die Melodieanteile im Reggae und das Subgenre Soul-Reggae. Beide Stilmerkmale führt die Sängerin auf "Party'N'Smoke" wieder in Vollendung vor, ebenso in der schwelgerischen Liebeshymne "Bubble" und dem romantischen Duett "Secret Lovers (feat. Wiya)".

Auf dramatischen Pop-Soul mit Synthie-Cello und Glockenspiel-Imitat extrahiert Etana ihren Quasi-Reggae dann in "Love", einem an Whitney Houston geschulten, imposant durchgeorgelten Gefühlsausbruch. Wow, legt sich die Songstress da ins Zeug, trägt kilometerdick auf, aber geschmackvoll.

Gleiches Recht hat hier der von der Kickdrum geschobene typische Sound heutiger Riddim-Compilations. Besonders gut und schwungvoll gelingt diese Art Sound im Opener "100 On The Highway", wo 100 nicht nur ein Tempo sind (ca. 160 km/h, im Song 84 beats per minute, die aber anderthalb Mal so schnell wirken). Die Sängerin vertont auch eine persönliche Abrechnung.

Die erfolgreiche Prominente hat auf Facebook und Twitter nicht nur Glanz, Fame und Fandom erlebt, sondern auch Intoleranz und Aggression. Als sie 2016 lange vor der Wahl Trumps dafür Verständnis äußerte, wenn Wähler*innen sich für den republikanischen Kandidaten entscheiden würden, brachte ihr das einen Shitstorm nach dem anderen ein und drückte die zuvor hohe Anzahl ihrer Europa-Gigs sichtbar.

Die Sängerin versuchte zwar ihre Aussagen zu relativieren, konnte sich aber gegen Empörung und Hass kein Gehör verschaffen; das versucht sie jetzt über die Musik. Sie greift die simplen Methoden der Zerstörungswütigen ("negative destructors") an, denen es sowieso nicht um Inhalte gehe, sondern darum anderen das Leben schwer zu machen ("just to make your life hard"), und dann rücken diese berührenden Zeilen mit der Finesse eines Battle-Raps heran: "Vipers / they're trolling / they come by, provoking / waiting and hoping / to slow me down / they can't hold me / and no matter what they say, no matter whay they do / just don't bother me / (...) / 'cause I can see right through (...) and let the music play."

Wenn die hinterlistigen Hatespeech-Schlangen und Social Media-Trolle sie provozieren, durchschaut sie das als schlichten Neid, um sie zu unterdrücken. Sie sieht dadurch hindurch, wenn sie sich in ihren Wagen setzt, über die Autobahn rast und mit der Musik alleine ist.

"Talk About It" bezieht seine Intensität daraus, dass es zur Burn-Out-Prävention gedacht ist, äußeren Druck infrage stellt, der zu innerem werden kann, weil wir mit Sätzen wie "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" oder "Da musst du eben die Zähne zusammenbeißen" erzogen wurden. "Party'N'Smoke" behandelt nebenbei auch noch die Rolle der Polizei. Die Themen ziehen also einen weiten Radius, und das spiegelt sich in der Musik, die neben ihrem Live-Album "Live In London" nun zu ihrem doch wohl besten Longplayer geführt hat.

"Gemini" wächst, je lauter man es hört. Klanglich ist es nicht ganz optimal und erfordert gute Kopfhörer oder Anlagen. Das Album ist kein Mainstream, weder innerhalb des Reggae, noch Richtung Pop/Soul. Verschobene Taktbetonungen in "Talk About It", überanstrengt hoher Gesang in "Easy To Let Go", monotones 'Toasting' mit Understatement in "Deception", die Ausreizung in ordentlich digitale Wabbel-Bubble-Beats "Tight Space (feat. Kabaka Pyramid)" – es gibt hier einige Stilmittel, die sich nur mit Liebe zur Offbeat-Welt aus R'n'B, Reggae, Rap und Gospel genießen oder 'fulljoyen' lassen, wie man in Kingston sagt. Fans authentischen Songwritings wird das Album wohl in einem Rutsch eingehen, weil es echt wirkt und Etana mit Inbrunst ihre Empfindungen herausschmettert.

Trackliste

  1. 1. 100 On The Highway
  2. 2. Truly
  3. 3. Bubble
  4. 4. Secret Lovers (feat. Wiya)
  5. 5. Tight Space (feat. Kabaka Pyramid)
  6. 6. Deception
  7. 7. Anything For You
  8. 8. Easy To Let Go
  9. 9. Love
  10. 10. Talk About It
  11. 11. Jamaica (feat. Bugle, The Nomaddz, Yahsha)
  12. 12. Party'N'Smoke

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