laut.de-Kritik

Glück und Traurigkeit fließen nahtlos ineinander.

Review von

"Periwinkle, cobalt, magnolia tree / Flee 'til you're free, and stay loving me / Some people have gone and the people who stayed / Will eventually go in a matter of days" wiederholt Leslie Feist in "Become The Earth" nach einem Breakdown immer und immer wieder. Zeilen, die aus der Mitte ihrer emotionalen Achterbahnhaft der letzten sechs Jahre stammen. Sie adoptierte ihre Tochter und musste den plötzlichen Tod ihres Vaters verkraften, dem abstrakten Maler Harold Feist. Dazu kam die Pandemie. Erfahrungen, die sich tief in ihr sechstes Album "Multitudes" meißeln. "Dust into dust as material must / Ash into ash into plexi and trash."

Wie schon zwischen den letzten beiden Longplayern benötigte die Kanadierin sechs Jahre für ihr neues Werk. War der Vorgänger "Pleasure" noch ein chaotisches, raues Werk, auf dem sie nach einer Trennung ihre Wunden leckte, fällt "Multitudes" viel makelloser aus. Ein Großteil der Songs lebt von ihrer Wärme, ihrer Besonnenheit. Vieles geschieht im Zeitlupentempo, die Arrangements wirken verspielt, aber zerbrechlich. Vielen wohnt eine Schneckerigkeit inne, die jedoch der bis ins kleinste Detail durchdachte Aufbau der Stücke durchbricht. Als wolle die alleinerziehende Mutter ihr Kind über Wiegenlieder, in denen auch immer wieder die Natur eine Rolle spielt, an Themen wie Tod, Angst, Trauer, aber auch Liebe heran führen. Egal, wie verletzlich sich die Texte auch zeigen mögen, Feist selbst versteckt sich nicht, bleibt mutig und lebendig.

Das Schlagzeug spielt eine untergeordnete Rolle, findet meist nicht einmal statt. Der ungeschminkte Sound und das fesselnde Songwriting rufen immer wieder Erinnerungen an Joni Mitchell oder Bon Iver wach, auch wenn Feist ganz für sich alleine steht. Dafür arbeitet sie diesmal neben ihrem langjährigen Produzenten, Multiinstrumentalist Mocky, und auch mit Mike Mills (R.E.M.) und Blake Mills zusammen. Hinzu kommen Miguel Atwood-Fergusons' fazinierende Streicher-Arrangements, David Ralickes (Dengue Fever) Bläser und Chilly Gonzales, der in "Forever Before" das Keyboard übernimmt.

Der angespannte Opener "In Lightning", der an eine leichtfüßigere Version von Björks "Volta" erinnert, führt jedoch erst einmal auf eine falsche Fährte. Ein Gewitter aus dröhnenden Percussions, Synthbass und weirdem Gitarrensolo. Darüber legt sie ihre Stimme, mal flüsternd, mal schreiend, mal alles dazwischen in mehreren Schichten übereinander. "And if I'm frightened it's just because / Of the power vested in me."

Apropos schreien: In "Borrow Trouble" lässt sie alles raus, was ihre Stimmbänder ohne zu reißen zu bieten haben. Dazu geht sie mit einem deutlichen "Heroes"-Touch und David Ralickes Baritonsaxophon so sehr Bowie, wie es möglich ist, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Als wäre dieser Blick zurück nicht genug, gemahnen sägende Streicher an The Velvet Underground. Doch sobald ihr Gesang einsetzt, findet das Stück immer wieder zu Feist zurück. So schafft sie es aus den vielen geliehenen Impulsen etwas Eigenes zu schaffen. "We borrow trouble / We even borrow timе / Like you don't have enough of your own / Now you want somе of my – trouble!"

Im Hauch "Forever Before" denkt Feist über das neue Leben mit ihrer Tochter nach. Der Veränderung, nun nicht mehr nur für sich selbst, sondern auch jemanden "sleeping right over there" da zu sein. Die eigene Vergänglichkeit wird ihr bewusst. Im Refrain stehen sich "Fear" und "Fearless" gegenüber, baut sich ihr eigener flüsternder Chor bedrohlich hinter ihr auf und schwillt wieder ab.

"In the family forge, I got burned / Taught a story in so many words / That it's bеst to prepare for the worst / And to makе / These martyr moves" singt sie in "Martyr Moves", während das verzauberte Arrangement dank Flöte und Klarinette in Richtung Fabelwelt abbiegt (neben "Borrow Trouble" mein ganz heimlicher Favorit. Aber das bleibt bitte unter uns).

"Multitudes" trennt Glück und Traurigkeit nicht. Es ist kein Gefühls-"Star Wars", in dem man sich nur für das Gute und das Böse entscheiden kann. Beides existiert zeitgleich, fließt ineinander und kann ohne das andere nicht existieren. Über der Vergänglichkeit liegt die Hoffnung eines neuen Lebens, über der Zuversicht die Trauer. Hieraus speisen die Songs ihre Tiefe und ihre Menschlichkeit.

Trackliste

  1. 1. In Lightning
  2. 2. Forever Before
  3. 3. Love Who We Are Meant To
  4. 4. Hiding Out In The Open
  5. 5. The Redwing
  6. 6. I Took All Of My Rings Off
  7. 7. Of Womankind
  8. 8. Become The Earth
  9. 9. Borrow Trouble
  10. 10. Martyr Moves
  11. 11. Calling All The Gods
  12. 12. Song For Sad Friends

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2 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Bin nicht sehr angetan bisher. Klingt wie eine B-Seiten-Kompilation aus "Metals" und "Pleasure".
    Es ist aber auch für Feist schwer, nach so zwei Granaten das Niveau zu halten.

    Von daher tue ich mich sowohl schwer mit dem Album zunächst, als auch generell ihr unter 4 Sterne für das Songwriting zu geben.
    Mal schauen, ob ich dieses Spannungsfeld in mir aushalten kann.
    "In Lightning" erinnert (zum Glück) stark an die jeweils letzten beiden Opener.
    Vieles hört sich einfach nicht so fertig an und wird von diesem Feist-typischen-Sprechgesang, der in den Vorgängern ab und zu auch mal auftauchte, (ablenkungstechnisch) überlagert.

    Allgemein fehlt auch einfach irgendwie der Groove der letzten beiden Alben, was aber wohl Absicht ist.
    Meine Highlights: "In Lightning", "Borrow Trouble", "Calling All The Gods".

    3,5 / 5

  • Vor einem Jahr

    Leider auch eher eine leise Enttäuschung (pun not declined) bei mir. Also klar hat sie immer noch eine herausragend betörende Stimme und so richtig schlechte Songs kann sie bestimmt auch gar nicht schreiben. Aber hier fehlt es für meinen Geschmack an zündenden Melodien, noch mehr als Metals scheint es mir auch eine stark introvertierte Scheibe zu sein. Kommt zugegeben daher vll. bei mir damit auch by design nicht ganz so gut an, ich kann mit ihren verspielteren Sachen einfach mehr anfangen.