laut.de-Kritik

Rollenspiel des Jahres: Exzentrisch, dramatisch.

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Manches ändert sich nie. Gewisse Vorurteile zum Beispiel. So starb zwar das Bardentum, wie das Lexikon weiß, im Zuge der Romanisierung Galliens aus. Heute muss niemand mehr befürchten, wie Troubadix am dörflichen Saufgelage aus der Baumperspektive teilzunehmen. Doch immer noch gelten der Kunst völlig verschriebene Poeten wie Owen Pallett als Sonderlinge, als Eigenbrötler, die bestenfalls für ein Minimalpublikum musizieren, kurz: als Nerds.

Nun zählt der Strippenzieher des Ein-Mann-Unternehmens Final Fantasy nicht gerade zu denjenigen, denen die Rolle des Außenseiters zu schaffen macht. Stattdessen kultiviert er dieses Image. Der Bandname einem japanischen Videospiel entnommen, die Musik im Brennpunkt von populär und romantisch-klassisch, Liveauftritte nur mit Stimme, Violine und Loop-Pedal. Und nun auch noch ein Konzeptalbum für ein Streichquartett, das unter anderem "jeden Suizidgedanken ein für allemal auslöschen" soll.

Mit einem leidenschaftlichen Tango wirbelt der Kanadier in das ambitionierte Wagnis und die Gehörgänge. Palletts dringlicher Falsett-Gesang umrankt die Stakkati des Cembalos, bald zuckt und zerrt besagtes Kammerensemble nervös gen Scheitelpunkt des Spannungsbogens. Dort wartet bereits eine weibliche Unbekannte auf den Staffelstab, bevor die Streichabteilung wieder die Zügel übernimmt und mit ansteigender Emphase das offene Song-Ende begeht.

Im Titeltrack thematisiert der Arcade Fire-Tourgeiger seine Schwärmerei für einen Rollenspielcharakter. Was zunächst komisch anmutet, überrascht mit ausgefeilter Dramatik. Violinen trillern, Tränen der Sehnsucht mischen sich in frei fallende Schreie: "All the boys I have ever loved were digital / I've been a guest, on a screen, or in a book!" Einzige Ausnahme in Liebesdingen: Xiu Xius Jamie Stewart, dessen Schaffen hier unzweideutig hofiert wird. Zweifel an der Eigenart des Freigeistes gehören jedoch verbrannt und seebestattet.

Tatsächlich klingt seine Mixtur aus introvertierter bis hektischer Stimme und Musical-Arrangement fast naturgewollt. Über ein Ragtime-Piano und vor engelgleichem Kinderchor portraitiert er in "This Lamb Sells Condos" auf tragisch-komische Weise eine zerbrochene Ehe. Spukt anschließend durch das Nahtoderlebnis seines Großvaters, in dem nicht erlösendes Licht wartet, sondern verzerrte Akustik den Horror noch intensiviert. Desertiert in "I'm Afraid Of Japan", das vom Todeswunsch eines Weltkriegveterans berichtet, plötzlich vom Platz am Mikrofon und singt einfach im Hinterzimmer weiter.

Der Final Fantasy-Klangraum besitzt nun einmal keine starren Grenzen. Hölzerne Percussion, ein altersschwaches Cello, Akkordeon, Geigen gestrichen und gezupft, ein unirdisch funkelndes Klavier, düstere Kontrabässe – alles hat Raum. Pallett waltet über sein Mini-Orchester mit strengem Blick auf die Harmonie, ohne den Stücken jemals die Luft zu nehmen. Und platziert selbst in ein harmlos anmutendes Interlude hinterrücks bitterböse Zeilen: "Jenna dreams of being physically able / To behead herself at the dining room table". Mehr Nerds braucht die Welt!

Trackliste

  1. 1. The Arctic Circle
  2. 2. He Poos Clouds
  3. 3. This Lamb Sells Condos
  4. 4. If I Were A Carp
  5. 5. ->
  6. 6. I'm Afraid Of Japan
  7. 7. Song Song Song
  8. 8. Many Lives -> 49mp
  9. 9. Do You Love?
  10. 10. The Pooka Sings

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