laut.de-Kritik

Panik in der Disco.

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In mehreren katholischen Kirchen kann man sie bewundern: Totentänze-Gemälde, entstanden im Mittelalter zu Zeiten der Pest. Der unheilvolle Skelettmann schwingt das Gebein im Reigen mit der ausgelassenen Party-Crowd. Die erotischen Ausschweifungen auf den gewaltigen Wandgemälden sollten von Seite des Klerus eigentlich missmutig die Fleischeslust geißeln, doch hatte für viele Betrachter auch eine andere Ebene: Im Angesicht der Endlichkeit noch einmal komplett das Leben lustvoll genießen.

Florence Welch stand wie wir alle auch irgendwo am psychischen Abgrund, komplett überfordert mit all dem Wahnsinn, der vor zwei Jahren seinen Lauf nahm. Keine Konzerte, kein Leben - komplett unerwartet verlor sie den Sinn, denn Singen und Konzerte sind nun mal keine Homeoffice-Arbeiten. Auch drehte sich das Image von Konzerten. Vorher noch ausgelassene Zelebrationen des Lebens, nun potenzielle Superspreader-Events. Wer Florence And The Machine schon einmal sah, weiß wie sehr diese Frau das Performing bis in die letzte Ader auslebt und liebt. Spricht man über die psychischen Folgen der Pandemie, redet kaum jemand über Künstler. Auch wenn Florence nicht zu den Geringverdienern gehört, aber Sorgen wieder in die Alkoholsucht zurückzufallen und das ganze Leben zu hinterfragen, werden wohl auch weltliche Bürger verstehen.

So ganz von unserem Planeten waren dagegen Florences Alben nie, eher übergroße Pomp-Gesten, orchestrale Soundtürme bis in den Himmel und extrovertierte Überschwang-Dramen. Daran ändert auch die schlimmste gesundheitliche Krise nichts. Schon "King" leitet das Album mit einem Statement ein und zeigt die Stärke von Florence, alltägliche Beziehungsdramen inklusive Streit in der Küche in ein übergroßes Theaterstück zu verwandeln. Es geht um Erwartungshaltungen, die unsere Gesellschaft immer noch an Frauen setzt. Kinder auf die Welt bringen, gute Ehefrau sein und alles hinten anstellen. "Cause I am no mother, I am no bride, I am king". Krönungsmesse und ein leeres Schloss als Metaphern für wiedergefundenes Selbstwertgefühl, aber auch leere Konzerthallen. Geht sicherlich alles eine (Ton-)Spur kleiner, aber Florence kann die Wall Of Sound Krone immer noch tragen.

Ihre Selbst-Inszenierung als selbstbewusste Frau, die es mit Gott aufnimmt und ihn anklagt, wirkt erst einmal so, als ob das eh nicht geringe Ego nun vollkommen Sonnenköniginnen-große Ausmaße annimmt. In Interviews und auf Konzerten erklärte sie ihre Wut über das Schicksal, aber auch das Augenzwinkern. Als ob das allmächtige Überwesen wirklich an der Engländerin interessiert sei. Und überhaupt kann Florence auch ruhig, der langsame, folkpoppige Song ist zerknirschte Isolation und stampft nicht mit beiden Beinen zu einem Ohohoho-Choral. Kate Bush-Exzentrik dringt natürlich immer durch, wenn zum Ende nicht mehr klar scheint, ob sie noch weint oder schon fast über die ganze bizarre Situation lacht.

Schon etwas merkwürdig, aber tatsächlich furchteinflößend gerät "Restraint". Ein Gothic-Song, der auch Marylin Manson ganz gut zu seiner "Mechanical Animals"-Phase gestanden hätte. Leider nur ein knapp fünfzigsekündiges Interlude, das diese dunkle Version von Welch nur kurz erscheinen lässt. Schade, so eine Richtung könnte spannend werden.

Überhaupt gerät die zweite Albumhälfte besser, weil sie immer mehr Facetten von der pompösen Florence frei legt. Das traurige Blues-Ende mit "The Bomb" und "Morning Elvis" gehört zu dem besten Material, was sie bisher heraus brachte. Keine Stadion-Animation und Mitklatsch-Rhythmen, sie steht praktisch nackt da, umgeben von einer Nick Cave-mäßigen Dunkelheit.

Wieder greift sie das Thema Alkoholsucht auf und den Blick in diesen tiefen Abgrund. Intimität tut "Dance Fever" gut. Umso spannender die zurückhaltende Produktion, die der Glass Animals-Sänger Dave Bayley hier trotz seines EDM-Hintergrunds abliefert. Kein Publikum stand mehr da, und konnte die eigentlich doch sehr fragile Persönlichkeit von Florence stützen. Nun stehen die Konzerttermine fest und wir können sie wieder retten und wahrscheinlich auch uns. Es war eindeutig zu lange dunkel.

Trackliste

  1. 1. King
  2. 2. Free
  3. 3. Choreomania
  4. 4. Back In Town
  5. 5. Girls Against God
  6. 6. Dream Girl Evil
  7. 7. Prayer Factory
  8. 8. Cassandra
  9. 9. Heaven Is here
  10. 10. Daffodil
  11. 11. My Love
  12. 12. Restraint
  13. 13. The Bomb
  14. 14. Morning Elvis

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