laut.de-Kritik
Industrial-Beatbrocken und diffuse Angstzustände.
Review von Michael SchuhIch weiß noch genau, wie ich den neuen Songs von Gary Numan vor sechs Jahren fassungslos gegenüber stand (mein Chef übrigens auch - allerdings vor Entsetzen). Da drosch ein bereits halb vergessener, 42-jähriger Ex-Synthie-Popper in die Gitarrensaiten, als wollte er seine eigene Geschichte umschreiben oder sich gleich bei der Fear Factory um eine Anstellung bewerben. Anbiederungen dieser Art hatte er dann erstaunlicherweise gar nicht nötig, wie sein Songwriting eindrucksvoll belegte.
Wie der namenlose Rächer im Western kam auch Numan im Jahr 2000 ungefragt, hinterließ dabei gewaltige Spuren und war anschließend schneller wieder weg, als unsereiner "Cars" sagen konnte. Auf zwei Konzerten besah ich mir dieses Phänomen. Und es war tatsächlich der Gary Numan von damals, der introvertierte Typ mit dem seltsamen Klamottengeschmack, der hier sämtliche Kritikervorwürfe (NIN-Kopie) mit einer ähnlichen Wucht zerbersten ließ, wie sein Album meine Gehörgänge.
Seither sind sechs lange Jahre ins Land gegangen, in denen zwar die Sugababes seinen Pophit "Are Friends Electric" wieder belebten, der Meister selbst aber sein britisches Landhaus dem Aufnahmestudio vorzog. Was machte er da? Er wurde Vater und lebte ein Familienleben. Dass er mit "Jagged" nun ein stilistisch nahestehendes Werk zu "Pure" vorlegt, ist weder überraschend noch traurig. Sechs Jahre mögen ewig sein im Musikgeschäft von heute, rechtfertigen die hier dargebotene Songwriting-Qualität aber durchaus.
Zwar ist das Albumcover erneut nicht anspruchsvoller als frühere Ästhetikvergehen (wir erinnern uns: Gary als blondierter Mad Max in Leder-Rüstung auf "Warriors"), doch gleich mit dem Opener bringt der Brite einen vertrackt arrangierten Elektrorock-Monolith mit ausladendem Refrain-Gewitter auf den Weg. Sauber. Die messianische Haltung des letzten Covers hätte übrigens problemlos für "Jagged" zweitverwertet werden können. Numans Weltschmerz bleibt überbordend, Themen wie Sünde und Reue sowie diffuse Angstzustände triefen geradezu aus den Texten, während seine Stimme ohne den berühmten, nachhallenden Echo-Effekt weiter undenkbar bleibt.
Nach wie vor dauern die zumeist schleppenden Industrial-Beatbrocken im Durchschnitt über fünf Minuten, und auch wenn der Überraschungseffekt diesmal ausbleibt, kompositorische Mängel sind nicht auszumachen. Die vielerorts pulsierende Begeisterung über einen deutlich elektronischeren Ansatz im Vergleich zu "Pure" kann ich nur bedingt ausmachen. Dafür glänzen "Slave" und "Blind" tatsächlich mit den flirrenden Synthie-Sounds von "Are Friends Electric?". Letzterer bietet obendrein ein Piano-Interlude auf, das Trent Reznor zur Ehre gereichen würde. Disco-Potenzial weisen "Halo" und "Haunted" auf, der Hit der Platte heißt jedoch "In A Dark Place". Mal schauen, wens interessiert.