laut.de-Kritik
Strapaziöse Séance mit dem Wizard.
Review von Maximilian FritzWie versetzt man außerweltlichen, außerirdischen Lehnstuhl-Techno in ein irdisches, pseudowissenschaftliches Setting? Ganz einfach, man gibt vor dem Hördurchgang einen anderen konzeptuellen Rahmen vor. Diesen Kniff hat Jeff Mills für "The Clairvoyant" (Der*die Wahrsager*in) angewendet.
Sein auf mysteriöse Weise wohlklingender und gleichzeitig seltsam atonaler Entwurf zwischen Techno, Ambient und Jazz ist so wiedererkennbar wie unweigerlich mit den weiten des Weltalls verbunden. Zumindest nach der DJ-freundlichen, auf Funktionalität ausgelegten Phase des ikonischen Detroiter Künstlers.
Jetzt erklingt sein primär von ominösen Strings dominierter Sound also im verrauchter Zimmer nebst Kristallkugel und Räucherstäbchen. Sämtliche Tracktitel beziehen sich auf Wahrsager*innen, "The Séance" etwa beginnt die großzügig bemessene Reise von fast 80 Minuten, "The Spirit World" beschließt sie.
Was dazwischen passiert, ist fein produzierter Trademark-Sound, unverwechselbar Mills, im Großen und Ganzen aber vielleicht etwas arm an Überraschungen oder Innovationen. Weniger Spielzeit hätte zudem nicht geschadet, wie man feststellt, wenn in "All Loved Ones" den vorherigen Tracks relativ ähnliche und nicht gerade leicht verdauliche Synths den Ton angeben.
Viel angenehmer plätschert da schon das anmutige "Shadow With A Golden Aura" vor sich hin. Der Mix hat Textur, der Groove reflektiert Jazz, die Melodie hingegen kühlen Techno, hat dabei aber nichts Maschinelles, sondern wirkt eher orchestral. Ähnlich "I Feel A Presence" im Anschluss, das als Ambient-Track mit Geige und gelegentlichem Hi-Hat-Rasseln eine vibrierende Spannung aufbaut.
Glücklicherweise muss nicht jedes Stück im abgedunkelten, nur vom Kerzenschein erleuchteten Zimmer konsumiert werden, wie vom Wizard, der im Beitext etwas zu sehr ins Paranormale abdriftet, empfohlen. Die pittoreske Trilogie im Mittelteil des Albums, "Three Signs From The Other Side", etwa entzieht sich mit unruhigen 909-Workouts und attraktiven Tempowechseln dem Wahrsage-Rahmen, dem die Harry-Potter-Font auf dem Cover eine komische Note verpasst.
Teil zwei ebenjener grollt dagegen im niedrigen Frequenzbereich und fährt die Dynamik in den Keller, um in den letzten beiden Minuten doch die vollkommene Geisterbeschwörung zu praktizieren. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe, der letzten großen Pandemie unserer Zeit, hätten Wahrsager*innen den Menschen Hoffnung gegeben, meint Mills. "The Clairvoyant" mit seinen pendelnden, zirkulierenden Sound-Schichten sei ein Versuch, das betrügerische Image der Zunft positiver zu besetzen.
Natürlich schneidert man elektronischer Musik gerne Konzepte auf den Leib, besonders im LP-Format, wo sich das bloße Zusammenspiel aus Bass, Synths und Beats bekanntermaßen schnell abnutzt. Mills treibt es hier aber selbst für seine hochkulturellen Avancen etwas arg weit.
Auf der Zielgeraden triumphiert ein ums andere Mal der gerade Beat, "Questions, Decisions And Consequences", "The Feeling Anything Is Possible" oder das mächtige "Dancing Shadows" mit seinen Drum-Breaks könnte man sich sogar auf postpandemischen, vielleicht aber doch eher postapokalyptischen Dancefloors vorstellen.
Schwierig macht eine unvoreingenommene Bewertung von "The Clairvoyant" auch die Fatigue, die sich im Hinblick auf Mills' Schaffen in den letzten Monaten einstellt. Qualitativ schlecht ist davon nichts, die Frequenz, mit der der Axis-Chef seine Alben, Nebenprojekte, Kunstprojekte und neuerdings auch ein Magazin rausballert, übersättigt aber doch. Dennoch: "The Clairvoyant" ist ein solides Album, selbst mit all dem Wahrsage-Fetisch.
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