laut.de-Kritik
Das Weiße Album des Wilco-Chefs.
Review von Alexander KrollWer ein Dreifachalbum veröffentlicht, führt Großes im Schilde. George Harrison läutete mit "All Things Must Pass" die Zeit nach den Beatles ein. Prince feierte mit "Emancipation" die Auflösung seines achtzehnjährigen Plattenvertrags mit Warner. Und Bob Dylan setzte nach zwei American-Songbook-Alben noch eins drauf und versammelte auf "Triplicate" dreißig Klassiker der amerikanischen Musikgeschichte.
Ein Dreifachalbum mit dreißig Songs hat jetzt auch Jeff Tweedy aufgenommen – und verfolgt damit ebenfalls große Absichten. Fünf Jahre nach "Love Is The King" entwirft der Wilco-Boss sein fünftes Soloalbum als wuchtiges Gegengewicht zum negativen Zeitgeist: "Kreativität verschlingt die Dunkelheit. Heutzutage ist das wie ein endloses Buffet – ein bodenloser Korb voller Tiefpunkte", erklärt Tweedy zum Albumrelease, "Twilight Override" ist mein Versuch, all das zurückzudrängen. Mein Versuch, diese eindringende Nacht, diesen Alptraum der Seele zu verschlingen".
Inspiriert von Mehrfachalben wie The Clashs "Sandinista!" und dem Weißen Album der Beatles, durchstreift der 58-jährige Chicagoer zusammen mit seinen beiden Söhnen Spencer und Sammy ein weites musikalisches und thematisches Spektrum. Neben beschwingten Indierock-Zeitreisen, die perfekt auf ein Wilco-Album gepasst hätten ("Caught Up In The Past", "Forever Never Ends", "Enough") verbirgt sich hinter jeder Ecke ein neuer Ansatz.
Da ist das geheimnisvolle Sprechgesang-Stück "Parking Lot", das sich zwischen Identitäten und Mazzy Star-Klangflächen bewegt. Da ist die krachige Velvet-Underground-Hommage "Lou Reed Was My Babysitter". In der Nähe schimmern kreative Miniaturen wie das düstere Alt-Country-Gedicht "Wedding Cake", das Synth-Choral "Blank Baby" und das Friedenslied "Amar Bharati" über einen indischen Asketen, der seit über 50 Jahren seinen rechten Arm in die Luft streckt.
Um all die vielen Impressionen spannt "Twilight Override" einen andächtigen Singer-Songwriter-Rahmen. Als bewusste Abkehr von einer schnellen und oberflächlichen Kultur erschafft Tweedy mit seiner Stimme und Akustikgitarre einen poetischen Resonanzraum, in dem sich Klänge und Ideen in einen regen Austausch begeben. Zwar bleibt manches skizzenhaft und könnte klarere Konturen vertragen – "Mirror" etwa zerfranst in Zeitlupe, "Secret Door" dreht sich um sein knappes Folk-Schema, und Tracks wie "New Orleans" und "No One's Moving On" marschieren geradeaus, bis sie auseinanderfallen.
Andere ungeschliffene, leicht verdrehte Songs wachsen mit jedem Hören immer weiter: "Better Song", "Over My Head (Everything Goes)", "Western Clear Skies" - immer wieder taucht ein kleiner Schatz auf. Zärtlich und zerbrechlich knüpft "Love Is For Love" an das Erbe von Elliott Smith an. "Sign Of Life" hätte mit seinen Streichern und der Steel Guitar auch Glen Campbell gut gefallen. "Too Real" driftet wunderbar in Dreampop-Sphären ab, die einem Film wie "Lost in Translation" gut als Soundtrack gestanden hätten.
Wer das 30-Song-Opus durchhört, findet auch die großen Schätze, die Lichter, die dem Dunkel trotzen. Etwa den kompakten, mehrstimmigen Hit "Out In The Dark". Oder den Titeltrack "Twilight Override", der die Melodie von "Here Comes The Sun" variiert. Hell leuchtet sogar der Breakup-Song "This Is How It Ends", und in der hinreißenden Country-Hymne "Saddest Eyes" erscheint hinter traurigen Augen am Ende "the brightest light".
Es ist die Kunst, das Schreiben, das Singen, die beständig nach einem Ausweg suchen und sich dabei selbst bespiegeln. Kathartisch legt die Folkballade "Throwaway Lines" ihren Schreibprozess offen: "Throwaway lines / The best I can do / Throwaway lines like / "I love you" / I'm afraid you can see / What I really mean when I sing / In between / Throwaway lines".
Als siebenminütiges Herzstück des Albums weist das akustische Mantra "Feel Free" verschiedene Wege in die Freiheit. Der entscheidende Weg scheint dabei der Song selbst zu sein: "Feel free / Make a record with your friends / Sing a song that never ends / Feel free".


Noch keine Kommentare