laut.de-Kritik
Über Selbstakzeptanz und Liebe in einer konsumorientierten Zeit.
Review von Toni HennigSeit "Viscera" von 2011 kreist das Themenspektrum der norwegischen Musikerin und Autorin Jenny Hval um weibliche Identität, Selbstfindung und Intimität. Dazwischen veröffentlicht sie Werke mit kunstvoller Kammermusik ("Meshes Of Voice" mit Susanna Wallumrød) und atonalem Free Jazz ("In The End His Voice Will Be The Sound Of Paper" mit Kim Myhr und Trondheim Jazz Orchestra). Ihr Album "Apocalypse, Girl" aus dem letzten Jahr stellte vor allem politische Fragen. In "Blood Bitch" füttert sie ihre Figuren dagegen mit reichlich Blut.
Inspiriert vom Film "Female Vampire" des B-Movie-Regisseurs Jess Franco kreiert Hval eine fiktive Rahmenhandlung, in der eine zeitreisende Blutsaugerin ihren Opfern durch orale Befriedigung das letzte Stück Leben aussaugt. Der gleichnamige Song gerät mit schwebend-entrücktem Dream-Pop-Gesang als zugänglichster Hval-Track seit langem.
Zu den schwebenden Ambient-Collagen von "In The Red" hechelt sie hektisch, bevor laszives Geflüster zum Höhepunkt des Albums überleitet: "Conceptual Romance", eine dunkle, sphärische Synthiemesse über den Ursprung des Lebens. "The original wound, the origin of the world", singt Hval einfühlsam. Die Natur und das Triebhafte spielt in den Werken der Norwegerin, geprägt durch die Sozialisation im Black Metal und inspiriert von der norwegischen Heimat, eine zentrale Rolle.
Beim Spoken-Word-Track "Untamed Region" wacht die Protagonistin auf einem blutigen Bett eines Hotels auf und streift zu Fender-Rhodes-Klängen orientierungslos durch den Raum. Den kapitalismuskritischen Ansatz von "Apocalypse, Girl" greift "The Great Undressing" zu minimalistischer Trancemusik auf. Lyrisch geht es um Selbstakzeptanz, Liebe und körperliche Nähe in einem wirtschaftlichem System, das die Individualität des Einzelnen untergräbt. Für Jenny Hval steht die voyeuristische und pornographische Überschreitung von Tabus also keineswegs im Vordergrund.
Sie bietet auf "Blood Bitch" einen Gegenentwurf an. Ihre Figuren handeln selbstbestimmt. Unter der blutsaugenden Oberfläche legen sie ihre Verletzlichkeit offen. In "The Plague" ertönen rituelle Trommeln, dissonante Geräusche laden anschließend auf einen befremdlichen Horrortrip ein. Hvals emotionale Schreie verhallen im Inferno einer lodernden Flammenglut.
In "Period Piece" mahnt sie "Don't be afraid, it's only blood". Sie spricht von Schmerz, Menstruationsblut, von weiblichem Bewusstsein und Selbstverwirklichung. Am Ende nimmt niemand mehr die Worte ihrer Figuren wahr. Gegenüber der Musikindustrie, die Frauen nicht als gleichwertig akzeptiert, betont Hval als eigenständige Do-It-Yourself-Künstlerin stets ihren Unmut. Ihre Stimme unterlegt sie in "Secret Touch" mit einer dicken Schicht an Halleffekten.
In "Lorna" fragt sie zu dräuenden Orgelklängen: "What is this desire?". Kann Leidenschaft in einer schnellebigen und konsumorientierten Zeit überhaupt noch existieren? Eine Antwort gibt "Blood Bitch" nicht. Zum Abschluss wendet sie sich romantisch an dem Hörer: "Can you find it?" und vermittelt einen leisen Hoffnungsschimmer.
Im Gegensatz zum sperrigen "Apocalypse, Girl" klingt "Blood Bitch" einfacher und vermittelt unter einer Schicht von Field-Recordings und Dissonanzen ein großartiges Gespür für sanfte, flächige Popmusik. Selten ließ Jenny Hval so tief in ihre Gefühlswelt blicken.
1 Kommentar mit 5 Antworten
die letzte platte war für mich ja echt ne zumutung inkl eines der unansehnlichsten coverartworks aller zeiten.
hierauf bin ich durchaus gespannt. denn sie kann so große songs schreiben, wenn sie nur will.
"Grizzly Man", "On Cherry Tree" oder "Barrie For Billy MacKenzie" (große associates-hommage) als rockeettothesky verehre ich nach wie vor.
aber dein text macht ja echt neugierig, toni.
Kann sie, wenn man zwischen den Ambient-Sounds, Collagen, Field Recordings danach sucht. Apocalypse, Girl verstehe ich auch als etwas fragmentarische, aber thematisch schlüssige Übergangsplatte. War aber nicht ihre letzte. Das war dieses Free-Jazz-Album mit dem Trondheim Jazz Orchestra und Kim Myhr.
Und das Gummiballcover müsste man eh tiefenpsychologisch analysieren lassen.
das sach man, besonders in verbindung mit den lyrics.
ne großartige künstlerin ist sie ohnehin in jedem fall.
hast DU dir denn mittlerweile endlich mal die rockettothesky-sachen gegeben?
besonders ihre billy mackenzie-hommage scheint mir - aus den von dir angesprochenen tiefenpsychologischen gründen - alles andere als katalog-biografisch irrelevant; erst recht wenn man billys tragisches schicksal mit einbezieht.
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
"Medea" lief hier vor ein paar Monaten und das war mir etwas zu kryptisch, aber interessant auf jeden Fall.