laut.de-Kritik

Hochglanz-Musik mit seelenvollen Inhalten.

Review von

Während sich manche Artists nur in ihrer Szene-Bubble einen Namen machen, polarisieren andere drüber hinaus zwischen Fans und Allergikern. Und dann gibt es die dritte Sorte: Sympathieträgerinnen wie Kali Uchis, die man kaum nicht mögen kann, die aber weder in ihrem Genre noch außerhalb allzu bekannt werden. Dabei könnte diese Amerikanerin mit kolumbianischen Wurzeln ein Weltstar von der Dimension einer Mariah Carey oder Whitney Houston sein. Denn alleine ihre Stimme ist schon ein starkes Pfund. Wenn sich dann noch alle Songs als Glücksgriffe herausstellen, wie auf "Sincerely", tritt leicht mal dieser Effekt ein: 'Noch nie von ihr gehört! Wow! Und die hat schon fünf Alben?'

So passierte es, wenn ich in den letzten Tagen Kali-Laien ein paar Töne aus "Sincerely" vorgespielt habe - egal welche. Ob man in "It's Just Us" einem Liebespaar-Gemälde beim 'Making Of' zuschaut und jede Gesangsnote wie ein Pinselstrich Form und Farbe aufträgt. Oder ob Doo-Wop und Vintage-Orgeln in "All I Can Say" sowohl Sound der frühen wie auch späten Sixties wiederbeleben und Uchis zum Sam Cooke der mp3-Ära wird. Oder ob sie in "Territorial" mit den Worten "look like an angel / talk like an angel" eine Referenz zu Elvis the Pelvis und dessen "Devil In Disguise" zieht. Immer lässt Kali Herzen höher schlagen. Dazu braucht sie keine hohe beats per minute-Zahl.

Was statt dessen den Ausschlag gibt, ist ihre zu Schallwellen geronnene Denke: 'Lass Gefühlen ihren Lauf' lautet ihr dringender Tipp, ihre Forderung. Routinen, Regeln und Reihenfolgen stünden als Romantik-Killer im Weg. "I'm an old-school romantic / call me crazy, if you want / forget the rules to play (...) Take off your cool now! / Don't be ashamed (...) Baby, lose the game!" Zum postmodernen Game des Flirtens und Zusammenkommens gehört die Grundüberzeugung, dass alles immer auch ganz anders kommen kann und man sich daher nie fallen lassen darf. Doch sollten die Leute besser Kalis Slogan "Lose My Cool" befolgen. Sich zu verlieben sei von Hause aus kein Akt von Coolness, so lässt sich Kalis Nachhilfestunde zusammenfassen.

Mit der gefühligen Wärme der frisch gebackenen Mama, die ihre eigene Mutter gerade verlor, geht bei der R'n'B-Chanteuse eine Gipfelwanderung einher, in selten erklommene Oktav-Regionen. Fast in jeden Track baut Kali ein paar Takte ein, in denen sie zwischen den Registern wechselt und eine kurze Phase in eine andere Tonhöhe transponiert: Bei "Lose My Cool" geschieht dies in der Bridge, bei "Sugar! Honey! Love!" in der zweiten Minute, im Opener gleich am Anfang. Die 30-Jährige genießt es, sich ganz unaufgeregt im Ultra-Sopran zu räkeln. Andere hören sich ganz oben am Berg frostig und klirrend an, Kali Uchis hingegen inbrünstig, lodernd, voller Liebe, während jedes Lied einen etwas anderen Aspekt der Liebe meint.

Da wäre die endlose und instinktive Liebe der Gebärenden zu ihrem Nachwuchs in "ILYSMIH", das Locken und Balzen der fortgeschrittenen Verführungskunst in "Daggers!", die Suche nach der Liebe zu sich selbst in "Heaven Is A Home". Die Story eines Mädchens, das sich in sich selbst eingesperrt fühlt, führt durch den Pfad zu Vertrauen und Hoffnung. Die Liebe zu einer früheren Zeit, als Kali noch lange nicht auf der Welt war, ist eine weitere Variante: Liebe als Nostalgie, als Sehnsucht zu den brokaten Film-Soundtracks der Sechziger, zum Chicano-Soul der US-Latin-Community in den Siebzigern, den Uchis auf Englisch wiedergibt, bietet einen tollen Sound für all die vielen anderen Emotionen. Nicht zufällig wird eine Gruppe des Daptone-Labels den Support auf ihrer US-Tour spielen. Ab "Territorial" bauen sich in der Tracklist step by step Retro-Harmonien auf, und bei "Angels All Around Me", "Breeze!" und "Sunshine And Rain" vermählt sich der Glitzer-Soul mit Soft-Pop. Letzteren Titel fände bestimmt auch Scarlett Johansson umwerfend.

In der R'n'B-Nummer "Fall Apart" stellt Kali die entscheidenden Fragen: "Do you love me when I get difficult? Do you love me when I'm down and out? Do you love me when I'm not prettiest?" Zum Spagat zwischen Hochglanz-Musik und seelenvollen Inhalten tragen solche bohrenden Fragen und die ruhige und doch lebhafte Art, wie die Künstlerin sie vorträgt, auf jeden Fall bei. Wenn man genau zuhört, mit Kopfhörern zum Beispiel, entdeckt man zwischen ihren engelsgleichen Lead-Vocals feinste "shoo-baa-doo"-Background-Arrangements wie in "For: You", einem Song, der ein bisschen in der Stimmung des aktuellen Selena Gomez-Albums groovt.

Bei aller Originalität knüpft Kali natürlich an Vorhandenes an. Wo es sehr Soundtrack-mäßig wird, an Shirley Bassey, wo es sehr smooth wird, in "Silk Lingerie," (Seiden-Unterwäsche), steht Lana Del Rey Patin, und das Komma nach dem Liedtitel deutet an, was nach der Seide kommt. Annie Lennox' Phrasierung klingt in "Territorial" an, "Daggers!" strahlt nicht nur wegen der Zeile Sade-Vibes aus, und dass Fans von Alison Goldfrapp bei dieser Platte durchgehend auf ihre Kosten kommen, ist ebenso anzunehmen.

Was bei "Breeze!" besonders beeindruckt, ist der Schlurf-Back-Beat zum 15-köpfigen Chor. Ko-Autor war Al Shux, der Produzent des Jay-Z- und Alicia-Hits "Empire State Of Mind". In "Fall Apart" bestechen das Schlagzeug von Durand Jones' Drummer Aaron Frazer, ein Mellotron und die schnuckelig umgesetzte Message: Niemand muss perfekt sein, um Liebe zu verdienen. Manchmal zündet die Melodie sofort, wie in "Sunshine And Rain". Manchmal reißt der Rhythmus mit wie im Trip Hop-durchfluteten "Sugar! Honey! Love!" Oft wirken die Texte toll, nehme man eine Zeile wie "When time is a thief / I won't let him rob me". Alte Bekannte wie Leon Michels und Homer Steinweiss, New Yorks Retro-Soul-Vorhut, bereichern die Platte mit dem letzten Schliff an der Instrumente-Front.

Während Kali die Themenfarbe Pink von ihren letzten Artworks fortsetzt, verzichtet ihre Poesie auf diesem Album völlig auf die spanische Sprache des Vorgängers, und die Musik entfernt sich vom Bubblegum-Urban früherer Releases zugunsten von tief in der Vergangenheit rührendem Soul. Die Umklammerung ihrer Mutter, der sie posthum die Platte widmet, und die Dankbarkeit fürs Leben trotz all seiner Widrigkeiten nehmen breiten Raum ein.

Manchmal würde man sich freche Brüche, Effekte, mehr unerwartbare Momente wünschen. Bei den Beats hätte man mehr rausholen können, und letztlich ist Kalis Stimme so extrem im Vordergrund, dass nicht jeder Musikfan diese Platte gehört haben muss, sondern nur, wer diese Stimme eben angenehm findet. Technisch ist die Gesangs-Leistung ohne Frage bärenstark. Und sie steht für das Innerste: Die Scheibe ist als autobiographischer Songwriter-Output zu verstehen. Einen einzigen Welthit hatte die Künstlerin übrigens wirklich schon, "Telepatía" Ende 2020 - einschließlich Österreich und Schweiz. Nur in Deutschland verschmähte man sie bisher. Damit sollte spätestens jetzt Schluss sein.

Trackliste

  1. 1. Heaven Is A Home
  2. 2. Sugar! Honey! Love!
  3. 3. Lose My Cool
  4. 4. It's Just Us
  5. 5. Territorial
  6. 6. Silk Lingerie,
  7. 7. Fall Apart
  8. 8. All I Can Say
  9. 9. Daggers!
  10. 10. For: You
  11. 11. Angels All Around Me
  12. 12. Breeze!
  13. 13. Sunshine And Rain
  14. 14. ILYSMIH

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