laut.de-Kritik

Der Sargnagel einer Pop-Karriere.

Review von

Grundsätzlich gibt es im Musikgeschäft wenig verachtenswertere Praktiken als wenn Labels ihren Artists verbieten, ihre eigene Musik zu veröffentlichen. Wir haben es oft genug miterlebt. Normani, Kim Petras, Sky Ferreira, Jojo: In manchen Fällen legt die Gewinnorientierung irgendwelcher Millionäre in Anzügen das Momentum einer ganzen Karriere auf Eis. Der Release von Katy Perrys siebten Studioalbum markiert allerdings ein einzigartiges Gegenbeispiel, bei dem man sich wirklich wundert, wieso zu Hölle denn niemand etwas dagegen unternommen hat.

Nach zwei in den Sand gesetzten Comebacks - eins scheiterte so lautstark und mit Ansage, dass "Witness" als Richtmaß für künftige Flop-Eras herhalten musste, das andere so kleinlaut, dass sich nahezu niemand mehr daran erinnert, dass "Smile" überhaupt existiert - ging es diesmal wirklich um alles. Wenn Perry mit dem dritten Anlauf nicht wieder die Gunst der Pop-Welt auf ihre Seite holt, dürfte für sie die Zeit gekommen sein, in der sie endgültig vom Spielfeldrand aus zusehen muss.

Doch schon nach dem Teaser zur ersten Single hatte der Schiedsrichter die Hand an der Arschkarte, und mit jeder weiteren Phase dieser Promo festigte sich sein Griff, bis ihm die Knöchel weiß anliefen. Die Reaktion auf wenige Sekunden aus "Woman's World": Bitte nicht! Und doch kam es noch schlimmer als erwartet. Nicht nur klingt der Song, als hätte ihn Perry für eine Activia-Werbung geschrieben. Um ihrem Image den nächsten Kinnhaken zu verleihen, holte sie für ihre große feministische Comeback-Single auch noch den mutmaßlichen Vergewaltiger Dr. Luke ins Boot. Fehlte eigentlich nur noch, dass Harvey Weinstein und Bill Cosby in pinken 'Girlboss'-Onesies Räder schlagend durchs Video turnen. Was jedoch nicht heißen soll, dass selbiges auch ohne deren Beitrag dem Song irgendeinen Gefallen tat. Alles an "Woman's World" ist ungefähr so feministisch wie die Wagner-Kolumne in der Bild-Zeitung.

Als Reaktion darauf zog die Amerikanerin die allzeit beliebte Satire-Jokerkarte. Nur hatte sie eben keinen doppelten Boden, auf den sie sich stützen konnte. In der Folge krachte sie noch einmal eine Etage tiefer in die Promohölle. Für die nächste, nicht minder Werbespot-würdige Single "Lifetimes" drehte sie ein Video auf Ibiza und handelte sich damit prompt einen juristischen Rattenschwanz ein, weil sie das mutmaßlich ohne die nötigen Genehmigungen tat. In den Charts erlitt sie eine noch härtere Demütigung: Sie schaffte es nicht einmal mehr in die Top 100 der Billboard-Charts.

Spätestens hier wäre Capitol Records wirklich niemand mehr böse gewesen, hätten sie die Reißleine gezogen und sich noch einmal zurück ans Whiteboard gesetzt. Einfach Gras drüber wachsen lassen: Das hier ist nie passiert, wir melden uns in vier Jahren nochmal, tschö! Stattdessen ließen sie ihr ehemaliges Pop-Zugpferd weiter in das offene Messer rennen, das auf Social Media seit Wochen über den Schleifstein gezogen wurde.

Gerade deshalb überrascht tatsächlich, dass "143" nicht wie der Fremdscham-Autounfall daherkommt, auf den man sich über Monate hinweg mit zugekniffenen Augen vorbereitet hatte. Im Gegenteil: Der Impact mit diesem Album fällt kaum spürbar aus. Hört man die Platte in Gänze, verschwinden schnell sämtliche Fragezeichen, und das klaffende schwarze Loch, wo eine Identität sein sollte, wird umso offensichtlicher. Dieses Album ist keine dieser musikalischen Vollkatastrophen, über die man noch in zehn Jahren lachen kann. Es ist nicht einmal halb so interessant wie das Drama, das ihm vorausging.

"143" legt Zeugnis von der Karriere einer Frau ab, die seit Jahren im Rekordtempo auf den Nullpunkt zurast und die sich nun mit allen Mitteln und jeglicher Hilfe des Industrie, die sie kriegen kann, an irgendeinem Strohhalm der Relevanz festzukrallen versucht: Feminismus, Queer-Pandering, Rap-Features, Hyperpop, ihre eigene Diskographie, und wenn alles nicht mehr hilft, holt man eben das eigene Kind vors Mikrofon. Katy Perry weiß, dass diese Dinge mittlerweile auf die eine oder andere Art Marketing-Faktoren geworden sind, aber der Zeitgeist hat sie längst überrundet. Dieses Album ist der Blick einer Außenstehenden auf die Trends, die Replika einer modernen Party-Playliste, kuratiert von stocksteifen Anzugträgern, die nur dann einen Berührungspunkt zu moderner Popmusik haben, wenn ihre Kiddies sie vor die Kamera zerren um einen TikTok-Tanz zu filmen.

Der Fakt, dass kein Song hier die lyrischen, visuellen und musikalischen Abgründe eines "Woman's World" erreicht, stellt weniger ein Kompliment an die restlichen Qualitäten dieser LP dar. Es verdeutlicht eher nochmals, wie abgrundtief beschissen ihr Opener ist. Während man über diesen Totalausfall jedoch ganze Essays schreiben könnte, fällt der Rest dieses Albums so nichtssagend und austauschbar aus, dass man in dem Zeitfenster zwischen dem Ende des Songs und dem Moment, in dem der erste Finger die Tastatur berührt, schon beinahe wieder alles vergessen hat.

"Gimme Gimme", ihr Versuch einer raunchy Dance-Pop-Nummer, wirkt ungelenker als eine Runde Twister in der Rheumaklinik. Auf "I'm His, He's Mine" könnte Perry unmöglich noch weniger aus einem "Gypsy Woman"-Sample herausholen, selbst dann nicht, wenn sie auch nur eine Sekunde lang aufhören würde, uns unter die Nase zu reiben, wie gern sie mit Orlando Bloom in die Kiste steigt. Aber selbst für einen Song, dessen einziger Sinn es ist, uns weiszumachen, wie freaky Perry angeblich im Bett drauf ist, klingt er erstaunlich stark nach Licht aus, fünf Minuten Missionarsstellung und gute Nacht.

"Crush" wiederum klingt nach einem Song, den ein Drehbuchautor für einen fiktiven Popstar in einem Hollywood-Film schreibt. Aber auch nicht die Sorte, die im Finale aus allen Rohren feuert, sondern eher die, die zehn Sekunden als Setup für eine Action-Sequenz läuft und dann unbemerkt im Hintergrund vor sich hin dudelt, während Charlize Theron Milla Jovovich ein paar Fressen poliert. Da wir gerade schon bei Film-Vergleichen sind: "Nirvana" ist einfach die schlecht abgepauste Version von "Double Trouble" aus dem ESC-Film mit Will Ferrell, garniert mit einem Billo-Drop, der ihm auch noch den letzten Rest Fleisch von den Knochen saugt.

Die 39-Jährige war noch nie gut darin, besonders evokative oder persönliche Texte zu schreiben, aber die von ChatGPT zu Papier gebrachte Midlife Crisis, die sie auf diesem Album breittritt, markiert selbst für sie einen neuen Tiefpunkt. Ich weiß, der KI-Verlgeich ist ausgelutscht, aber, bitte, ihr könnt mir nicht wirklich erzählen, dass vier, fünf menschliche Schreiberlinge solche Zeilen durchwinken: "Kitty, kitty come party tonight / Trippy, Trippy daddy take me on a ride", "stimulate me baby, with your fantasies", "I'm just a prisoner in your prison". Oder solche Metaphern: "Say the right thing, maybe you can be / Crawling on me like a centipede". Dass ausgerechnet dieses Album die Dreistigkeit besitzt, mit einem Song über die Gefahren von künstlicher Intelligenz anzukommen, setzt dem ganze die Krone auf.

Man hat hier über weite Strecken nicht einmal das Gefühl, einer echten Person zuzuhören. Die Katy Perry von einst, die den "Teenage Dream" Anfang der 2010er verkörperte wie kaum eine zweite, die juveniler, naiver Pop-Musik ein Gesicht gab, die ist längst im Winterschlaf. Es bleibt eine artifizielle Hülle, die zielgruppenorientierten Kauderwelsch mit dem gleichen Charisma vorträgt, wie diese eine Tante auf der Familienfeier, die gerade gelernt hat, was das Wort 'Cringe' bedeutet, und sich genug Selbstbewusstsein angetrunken hat, um ihrem Neffen vor versammelter Mannschaft zu beweisen, wie 'hip' sie doch sei. Nur redet Perry in diesem Fall nicht mit kleinen Kindern, sondern mit schwulen Männern in der Schlange zum Charli XCX-Konzert.

Wie absolut ideenlos, was denn genau oder für wen dieses Album überhaupt sein will, zeigt sich auch in der Auswahl der Features. Was zur Hölle, außer einen hoffentlich dicken Scheck, hat JID hier zu suchen? Oder Doechii? Es ist nicht so, als besäßen die beiden keinerlei Crossover-Potential, aber doch nicht an der Seite von Katy Perry?! Statt das Qualitätsniveau jedoch zumindest für einen Moment anzuheben, passen sie sich brav ihren Standards an und liefern eine Performance ab, die gerade so nicht als Arbeitsverweigerung durchgeht. Ein Test, an dem 21 Savage sang- und klanglos scheitert. Ich wette, dass der Mann sich schon jetzt nicht mehr daran erinnern kann, diesen Verse überhaupt aufgenommen zu haben, geschweige denn, für welchen Song.

Wenn man irgendetwas Positives über dieses Album verlieren will, könnte man erwähnen, dass Kim Petras' Auftritt ganz ordentlich über die Bühne geht, oder dass die beiden Throwbacks "Lifetimes" und "All The Love" zwar schamlos bei Perrys alten Hits abzuspicken versuchen, aber in einzelnen Momenten tatsächlich ganz gut ins Ohr gehen, ohne jedoch auch nur einmal das Moodboard der H&M-Werbung, das beim Songwriting am Whiteboard gehangen haben muss, aus den Augen zu verlieren.

Aber diese winzigen Lichtblicke retten dieses Album nicht, und sie retten auch Perrys Karriere nicht. "143" schiebt, was sich seit Jahren andeutete nicht länger auf, sondern dient endgültig als Sargnagel für einen der größten Popstars der letzten Dekade. Nachdem Perrys vorige Versuche, sich jeweils in gegensätzliche Pole musikalisch weiterzuentwickeln, in die Hose gegangen sind, erschien dieser Schritt, ihr altes Team wieder zurückzuholen und sich auf die in ihrem Katalog bewährte Songwriting-Kompetenz eines Dr. Luke zu verlassen, wie ein letzter Ausweg.

Aber nicht nur sie selbst hat seit "Teenage Dream" und "Roar" ihre Magie hinter dem Mikrofon verloren. Auch für die Leute, die ihr bereits damals unter die Arme gegriffen haben, hat die Industrie mittlerweile weitestgehend keinen Bedarf mehr. Dieses Album macht deutlich, dass Perry und ihr Team nicht unwillig sind, sich einem modernen Pop-Sound anzupassen, sie sind schlichtweg unfähig. So stellt sich am Ende auch die Frage nicht mehr, ob man diese Bruchlandung von einem Karriereende hätte verhindern können, hätte ihr Label tatsächlich den Reset-Button gedrückt. Es hätte Katy Perry die Blamage nämlich nicht erspart, es hätte sie nur aufgeschoben.

Trackliste

  1. 1. Woman's World
  2. 2. Gimme Gimme (feat. 21 Savage)
  3. 3. Gorgeous (feat. Kim Petras)
  4. 4. I'm His, He's Mine (feat. Doechii)
  5. 5. Crush
  6. 6. Lifetimes
  7. 7. All The Love
  8. 8. Nirvana
  9. 9. Artificial (feat. JID)
  10. 10. Truth
  11. 11. Wonder

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11 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 12 Stunden

    "dürfte für sie die Zeit gekommen sein, in der sie endgültig vom Spielfeldrand aus zusehen muss."

    Verstehe nicht ganz, warum die Dame so unten durch sein soll. Wie jeder Mainstreamact des Pop hat die doch ihre Minimum Fananzahl für's Leben eingetütet. Die wird, egal was passiert, nie wieder ein Konzert in ihrem Leben geben, das nicht gut besucht oder ausverkauft sein wird. Oder?

    Es sei denn, der Rezensent will darauf hinaus, dass sie aus kreativer Sicht nichts mehr zu sagen hatte. Aber hatte sie ja eh nie.

    "'143' legt Zeugnis von der Karriere einer Frau ab, [...] die sich nun mit allen Mitteln und jeglicher Hilfe des Industrie, die sie kriegen kann, an irgendeinem Strohhalm der Relevanz festzukrallen versucht: Feminismus, Queer-Pandering, Rap-Features, Hyperpop, ihre eigene Diskographie"

    Also...ne typische Popmusiker*in?

    • Vor 12 Stunden

      Das, was du ja richtig erklärt hast, meint der Rezensent ja mit "Spielfeldrand". Also im Grunde hast du genau dasselbe gesagt, nur mit unterschiedlichen Worten.
      Ist halt die Frage, was genau mit "Spielfeldrand" gemeint ist. Ich saß beim Fußball auch oft am Rand, weil, zwar gute Technik aber halt keine Disziplin. Dennoch war ich Teil der Manschaft. Ich hoffe, ich konnte es irgendwie deutlich machen, mein ❤️.

    • Vor 12 Stunden

      Ist ja eigentlich ne unzweideutige Metapher. Die Perry soll nicht mehr "im game" sein. Aber faktisch wird sie ja immer im game sein, solange sie aktiv ist. Es sei denn, Rezensent Leier bezieht sich darauf, dass sie künstlerisch nicht mehr tonagebend sein wird. Aber das war sie ja nie.

    • Vor 12 Stunden

      Kann gut sein, dass ich komplett auf'm falschen Dampfer bin. In dem Fall ist Herr Leier gerne zur Richtigstellung eingeladen. ;-)

    • Vor 12 Stunden

      Ja, er vermischt die künstlicherische mit der ökonomischen Ebene und lässt die Leser verwirrt zurück, da aus seiner Bewertung ja kein zwingend negativer Erfolg ausgeht. Jetzt verstehe ich, was du meinst. Ui, da warst du mir logisch voraus. Egal, du bist trotzdem mein ❤️

    • Vor 11 Stunden

      " Egal, du bist trotzdem mein ❤️"

      Halt mal den Ball flach, mmh? Danke.

    • Vor 11 Stunden

      Pro Unterfaden ist maximal eine Liebesbekundung erlaubt.

    • Vor 11 Stunden

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    • Vor 11 Stunden

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    • Vor 11 Stunden

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    • Vor 11 Stunden

      Zumindest in Deutschland wird sie mit Sicherheit weiterhin ihr Publikum haben. Hier kann man dem Formatradiohörer bis heute zB Anastacia und Bonnie Tyler als große Stars aus Übersee verkaufen.

    • Vor 10 Stunden

      Wales ist in Übersee?
      Okay, für viele Deutsche bestimmt und denen kann man noch viel Schlimmeres andrehen. Nicht nur musikalisch.

    • Vor 9 Stunden

      "Es sei denn, Rezensent Leier bezieht sich darauf, dass sie künstlerisch nicht mehr tonagebend sein wird. Aber das war sie ja nie."

      So wars in der Tat gemeint, und doch war sie bis "Witness" schon. Wenn man fragt, wer denn die größten Popstars der 2010er waren, kommt man an ihrem Namen nicht vorbei. In den 20ern wird sie nichtmal mehr ne Fußnote sein, egal wie groß die Hallen sind, in denen sie spielt.

  • Vor 11 Stunden

    Album nicht mal auf der Startseite erkannt, aber die Headline böllert. Und dahinter verbirgt sich dann Mirkos vielleicht bester und vielschichtigster Verriss ever. Gutes Ding. Der Mann sollte mehr Industrieschrott besprechen, das hat er zweifellos besser drauf als gefühlt jeder andere hier.

  • Vor 10 Stunden

    Man man man, „leider“ echt nur unterster Pop von der Stange. Sie bzw. ihr Team war damals echt besser den Zeitgeist und aktuelle Trends zu treffen und auf der Welle mit zu schwimmen. Ihr Auftritt bei den VMAs, bei welchen sie ihren Musikkatalog durchgeträllert hat war trotzdem nett. Ihre markante Stimme und die Wirkung die sie auf die Leute hat wird man ihr nicht nehmen können, aber mit Charts stürmen wirds wohl erstmal nichts mehr.