laut.de-Kritik
Eine Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens.
Review von Magnus FranzDie Vergänglichkeit des Lebens kann erschreckend sein. Spätestens dann, wenn man ein Leben für einen Moment an den eigenen Augen vorbeiziehen sieht. Diese brutale Erkenntnis erreichte auch Kevin Morby, als er im Januar 2020 einen plötzlichen Kollaps seines Vaters miterlebte und dieser sofort ins Krankenhaus gebracht werden musste. Der Vorfall veränderte Kevins bisherige Sicht auf die menschliche Existenz.
In den Monaten danach, während sein Vater langsam wieder zu Kräften kam, nutzte Kevin einmal mehr die Kraft der Musik, um die Geschehnisse zu verarbeiten. Diese innere Reise begann bereits mit einem Foto, das er später am Tag des Vorfalls noch vor Ort entdeckte. Zu sehen war sein Vater, oberkörperfrei, stolz und voller Kraft und Energie im Vorgarten stehend. "This is a photograph, a window to the past / Of your father on the front lawn, with no shirt on / Ready to take the world on, beneath the West Texas sun" erinnert sich Kevin auf dem Titeltrack. Ein vollkommener Kontrast zu dem, was sich kurz zuvor ereignete.
Dieses Bild und noch weitere Familienfotos, die Kevin an diesem Tag im Keller seines Elternhauses fand, bildeten nach und nach die Grundlage seines siebten Albums "This Is A Photograph". Jedoch war es die Stadt Memphis, die die Songs im Zuge eines Trips, um Abstand von den Geschehnissen zu bekommen, letztendlich zum Leben erweckte.
Verschiedenste Gefühlswelten bestehend aus Angst, Hoffnung und Resilienz, aber auch einzelne prägnante Momente wie die Erinnerung an Jeff Buckleys Tod am Ufer des Mississippi River, eine Fahrt am Highway 61 oder ein Spaziergang vorbei an Jay Reatards Anwesen, in dem dieser 2010 starb, formten mit der Zeit ein Album, das nicht nur Kevins Gefühlschaos ordnet. Es vereint auch viele Elemente seiner vorherigen Werke, allem voran die reduzierte DIY-Atmosphäre des Vorgängers "Sundowner" mit der rockigeren Upbeat-Aufmachung auf "City Music". Maßgeblichen Anteil daran hatte außerdem eine veränderte Herangehensweise an die Finalisierung der Songskizzen, die Kevin in seinem Hotelzimmer anfertigte.
Anders als noch auf "Sundowner", das Kevin im Alleingang kreierte, ist "This Is A Photograph" ein kollektives Gemeinschaftsprojekt. Denn enge Kollaborationspartner wie Sam Cohen und Nick Kinsey, später aber auch viele weitere Mitglieder aus Kevins Tour-Band und andere Gäste, erschufen eine enorme musikalische Bandbreite. So trifft eine zuerst gemächliche, sich dann aber kontinuierlich steigernde Piano-Ballade mit gefühlvollen Streichereinsätzen wie "Five Easy Pieces" auf "Rock Bottom", eine geradlinige Rock'n'Roll-Nummer, die ein wenig an Eels erinnert und zudem einen Hauch der späten Beatles versprüht. Und dann liegen dazwischen trotzdem weitere Stücke, die wieder in eine ganz andere Richtung verlaufen.
Das langsame Duett "Bittersweet, TN" mit Erin Rae, das als Mischung aus Bluegrass und Folk eine wundersame Melancholie nach außen trägt, entpuppt sich als Highlight der Platte. In ständigem Wechsel reminiszieren Kevin und Erin über die Schnelligkeit und die Langsamkeit, die jeweils verschiedene Stufen des Lebens prägen: "Goddamn you got old, you got upset you got sick / The living took forever, but the dying went quick / And oh, just to think you were a little kid / Wondering what you'd be when you got big / And there was no time, suddenly / Oh, there was no time, suddenly".
Während "This Is A Photograph" an jeder Stelle herzzerreißend ist, ist es dies allerdings nicht immer melancholischen Sinne. In Kevins Reflexionen über das Leben und dessen Verlauf finden sich auch immer wieder positive Aussichten. Untermalt von einfach gestrickten Piano-Akkorden und einer lieblichen Orchester-Inszenierung offenbart sich "Stop Before I Cry" als hingebungsvolle Liebeserklärung an seine Freundin, Waxahatchee-Frontwoman Katie Crutchfield: "And I wanna go out dancing / Soon as the world returns / 'Cause baby, when you're dressed up / Well, it's hard to find the words". "A Random Act Of Kindness" spielt wiederum mit dem Gedanken, dass alles Schlechte am Ende doch oft das Potential besitzt, in etwas Gutem zu münden: "Sun came up, through my hands / Sun came up, with no plan / Sun came up, strike up the band".
Damit sich all diese diversen Gefühle vollends entfalten können, ist Kevin auf "This Is A Photograph" auch nur selten in Eile. Kaum ein Song verweilt unter einer Laufzeit von vier Minuten, und genau das ist ausschlaggebend dafür, dass man sich als Zuhörer*in so gut in seinen lebensnahen Geschichten und Überlegungen verlieren kann. Nur vereinzelt wie auf "Disappearing" und "A Coat Of Butterflies" verlaufen die Instrumentals an manchen Stellen des Arrangements etwas zu sehr im Nichts und verlieren sich in der langen Laufzeit der Tracks. Dennoch strotzt die lyrische Ebene selbst dann immer noch vor vielen charakterstarken Lines und Referenzen wie "There's a lighthouse on the water, throwing light back at the shore / I heard you died trying to swim towards it, now you're living on the river's floor / I heard the mighty Mississippi took you out with just one punch / I heard you had the voice of a sweetheart, but the sweetheart was out getting drunk", die es nicht zu verpassen gilt.
Auch Kevins finale Erkenntnis auf dem Closer "Goodbye To Good Times" dokumentiert ganz in diesem Sinne des Verpassens, wie wichtig es ist, jeden Moment des eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen wertzuschätzen. Allerdings kommt diese Erkenntnis oftmals erst dann zum Vorschein, wenn ein Erlebnis zu einer Erinnerung wird: "I miss the good times, mama, they've gone out of style / And I don't remember how it feels to dance, goodbye to good times / Well this is a photograph, a window to the past / Of a family growing old, inside the boxing ring of time / In Bittersweet, Bittersweet, Bittersweet, Tennessee". So bleiben Kevins letzte Worte als bittersüßer Abschluss eines mitreißenden Albums zurück.
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