laut.de-Kritik
Hypnotische Tracks zwischen eingängig und experimentell.
Review von Ulf Kubanke20 Jahre Kreidler. Das will gefeiert werden. Zum Jubiläum gönnt sich eine der interessantesten deutschen Bands der Gegenwart ein besonderes Album. "ABC" ist eine deutsch-georgische Co-Produktion; aufgenommen in der Hauptstadt Tbilissi. Heraus kommen ein halbes Dutzend hypnotische Tracks zwischen eingängig und experimentell.
Die Alphabet-Platte signalisiert dem Hörer von A bis Z: Alter, ich bin Kunst! Die renommierte dOCUMENTA Künstlerin Thea Djordjadze steuert das Cover Artwork bei. Ihr typisch symbolistischer Ansatz vereint - wie so oft auch hier - Gegensätze wie roh und filigran, wie ausgeformt und unfertig miteinander. Keine Kopfgeburt, sondern sehr passend. Denn die Musik tut es ihr gleich.
Zwar haben die sechs Lieder zusammengenommen noch nicht einmal eine Gesamtspielzeit von 35 Minuten. In dieser guten halben Stunde passiert jedoch ungemein viel. Kreidlers bipolarer Ansatz - Freude am Ausloten freier Klangbilder eingebettet in einen streng formalen Rahmen - klingt keine Sekunde verkopft. Verbunden mit der Sinnlichkeit georgischer Musikelemente entsteht eine Art außerirdischen funky Postpunk-Krauts.
Höchst attraktiv vereinen sich auf diese Weise Kreidlers eigenwillige Rhythmus-Strukturen mit gelegentlich eingestreuten georgischen Vocals von Tifliser Musikern. Ein besonderer Clou: Durch "ABC" ziehen sich Riffs wie ein fundamentaler roter Faden. Letztere stammen gleichwohl nicht - wie gemeinhin üblich - aus der Gitarre, sondern kommen von den Synthies. Alex Paulicks Sechssaiter hingegen begnügt sich mit der höchst effektiven Nebenrolle des Einstreuens ästhetischer Verzierungen. Ein Klangbild mit vertauschten Rollen, dass sehr gut funktioniert.
Von einem Song wie "Modul" kommt man nicht mehr freiwillig herunter. Es klingt, als vereinigen sich ein angeschlagenes 80er Jahre Atari-Computerspiel mit höllisch loderndem Trance, der nur Sex und Schweiß will. Archaisch, repetitiv und gefährlich wie eine Droge. "Ceramic" dagegen klingt ein wenig, als hätte man fluffige Tangerine Dream Soundscapes mit dem avantgardistisch-kompromisslosen Roedelius in einen Käfig gesteckt, damit beide sich miteinander paaren.
"Nino" ist ein in Georgien verbreiteter Frauenname. Entsprechend feminin tänzelt sich Paulicks Gitarre durch das gleichnamige schöne Stück. Um das Rhythmusmonster zu kontrastieren, gibt es als Draufgabe einen landestypischen Männerchor, der punktuell in bester Gonashvili-Tradition seinen schwebenden Gesang eintupft. Mit "Alphabet" haben Kreidler sogar einen richtigen Hit im Programm. Weiblicher Stakkato-Gesang trifft auf einen sehr relaxten Instrumentalflow. Beides dreht sich unentwirrbar ineinander.
So gelingt den Deutschen mit georgischer Unterstützung einmal mehr ein großer Wurf, der direkt in Herz und Beine fährt. Weiterhören mit den "Selected Studies Vol 1" von Lloyd Cole und Hans Joachim Roedelius.
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