laut.de-Kritik

"Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel."

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Laibachs Verbindungen zum DDR-Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) reichen weit zurück. Schon 1984 komponierte das Künstlerkollektiv für das Slowenische Nationaltheater in Ljubljana Musik zu Müllers zwei Jahre zuvor am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführtem Stück "Quartett", das auf Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos Briefroman "Gefährliche Liebschaften" aus dem Jahr 1782 basiert.

Im Folgejahr traf die Band Müller in Berlin. Der schlug ihnen eine Zusammenarbeit für eine zukünftige Inszenierung vor, die nie zustande kam, bis die Leiterin der Internationalen Heiner Müller-Gesellschaft, Anja Quickert, Laibach eine posthume Theaterproduktion auf der Grundlage von Müllers Texten anbot. Die trug den Namen "Wir sind das Volk" und feierte am 8. Februar 2020 im Hebbel am Ufer (HAU) in der Hauptstadt Premiere. Nun bündeln die Slowenen unter dem Zusatz "Ein Musical aus Deutschland" Musik aus dieser Produktion zu einem Album. Vom 25.03. bis 28.03. finden die Shows im HAU ihre Fortsetzung. Am 28.04. gastiert das Künstlerkollektiv im Hamburger Kampnagel.

Im Zentrum stehen die von den Schauspielerinnen Agnes Mann und Susanne Sachsse vorgetragenen Schriften des DDR-Dramatikers wie der autobiografische Prosatext "Im Herbst 197.. Starb... (Live)", in dem Müller von der Verhaftung seines Vaters durch die SA, der "Übersiedlung" seiner Familie nach "Mecklenburg" und den damit verbundenen Ausgrenzungserfahrungen sowie seiner kurzen Zeit beim Volkssturm erzählt. Dazu hat Matevž Kolenc, der auch ein Großteil der Arrangements für dieses Werk schrieb, den Slowenen eine Komposition auf den Leib geschneidert, die in Form von dissonanten, kratzigen Streichern in Anlehnung an The Velvet Underground und schweren, düsteren Trommeln ihre Umsetzung findet. Klang und Worte fügen sich dadurch zu einer verstörenden Einheit.

Das Trauma über die Verhaftung seines Vaters verarbeitet Müller in "Der Vater". Dort liest Milan Fras mit diabolischer Stimme zu dräuend ambienter Elektronik und Streichereinschüben Zeilen wie "ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen" oder "am besten ist ein totgeborener Vater". An anderer Stelle geht es erneut um Ausgrenzung. "Ich Will Ein Deutscher Sein", das Cveto Kobal auf fast schon schnulzenhafte Weise zu feierlichen Streichern und Bläsern singt, basiert nämlich laut dem Dramatiker auf den "Papieren eines jüdischen Jungen aus dem Warschauer Getto", der "getötet" wurde, als er "11 oder 12 Jahre alt" war, dessen Schriften jedoch überlebt haben.

Woanders nimmt sich Kobal den Hans Albers-Schlager "Flieger, Grüß Mir Die Sonne" vor. Immer wieder lösen martialische Trommeln und dramatische Streichertöne, die die düsteren Geister der Geschichte heraufbeschwören, seinen beschwingten Gesang ab, so dass einem das Lachen im Halse steckenbleibt.

Auch sonst dominieren abgründige, von Tod, Verfall und Verderben durchzogene Klänge und Worte das Gesamtbild. In "Lessing Oder Das Ende Der Aufklärung" heißt es etwa zu finsteren Kirchenglocken: "Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen. Ein Stück Wüste. Das Sterben beginnt, beziehungsweise es wird schneller. Übrigens bin ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter nach dem anderen heraufkommen sehen. Aus allen Poren Blut, Kot, Schweiß, triefend, jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel."

Trotzdem gibt es ein wenig Licht am Ende des Tunnels. In "Traumwald" nimmt uns Mina Špiler mit zuckersüßer Stimme zu verwunschenen Streichern und ambienter Elektronik sanft an die Hand, um uns friedlich in den Tod zu geleiten, und in "Wir Sind Das Volk Nur Durch Die Liebe (Abschlussrede Von Peter Mlakar, Live)" verkündet Peter Mlakar, Chefphilosoph des slowenischen Kunstkollektivs NSK, die "Über-Wahrheit", die "Liebe" statt Hass lautet. "Vertrauen" könne man den Deutschen aufgrund ihres blinden Gehorsams in der Vergangenheit allerdings nicht, was auch schon Müller 1990 erkannte, der damals Misstrauen hegte, sobald das Wort "Volk" fiel. Statt uns jedoch die "Köpfe" einzuschlagen, versuchen Laibach lieber, sich in unsere "Herzen" und "Eingeweide" einzunisten, um unsere "Gene" zu "verändern".

Am Ende bleibt ein Album, das für Laibach-Verhältnisse atmosphärisch dichter und intensiver kaum sein könnte und das angesichts der aktuellen politischen Geschehnisse zum Nachdenken anregt.

Trackliste

  1. 1. Philoktet
  2. 2. Der Vater
  3. 3. Medea Material
  4. 4. Ich Bin Der Engel Der Verzweiflung
  5. 5. Flieger, Grüß Mir Die Sonne
  6. 6. Ordnung Und Disziplin (Müller Versus Brecht)
  7. 7. Lessing Oder Das Ende Der Aufklärung
  8. 8. Traumwald
  9. 9. Im Herbst 197.. Starb... (Instrumental)
  10. 10. Ich Will Ein Deutscher Sein
  11. 11. Ich War Die Wunde
  12. 12. Das Lied Vom Einsamen Mädchen (Live)
  13. 13. Im Herbst 197.. Starb... (Live)
  14. 14. Seife In Bayreuth (Live)
  15. 15. Herakles 2 Oder Die Hydra (Live)
  16. 16. Wir Sind Das Volk Nur Durch Die Liebe (Abschlussrede Von Peter Mlakar, Live)

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4 Kommentare mit 11 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Geil. Muss ich mir mal geben. :o Laibach ist halt schon ne Klasse für sich.

  • Vor 2 Jahren

    Hier gilt genau das Gegenteil von dem, was ich zu Sabaton geschrieben habe: leider ist die Veröffentlichung exakt zum rechten Zeitpunkt gekommen. Was für ein schwerverträglicher, atmosphärisch perfekter Brocken Musik. Unerträglich, und ich liebe es. Ich hoffe, ich kann sie noch ein drittes Mal live erleben. Selten so gegruselt.

  • Vor 2 Jahren

    Rammstein sind besser auch wenn sie Vorreiter waren.

    • Vor 2 Jahren

      Rammstein sind, was passieren würde, wenn Laibach dasselbe immer wieder veröffentlichen würden. Deshalb sind sie auch massiv erfolgreicher, weil sie einen Trademarksound haben. Ich sehe Rammstein gerne live, die hauen schon eine tolle Show raus. Aber sie berühren mich nicht. Laibach erzeugen Reibung. Das kann ich fühlen. Und ab und zu gefällt mir auch ein Stück. Ist wie mit den Einstürzende Neubauten.

    • Vor 2 Jahren

      Rammstein sind die vertonte Ödnis. Stupide minutenlang auf zwei-drei Noten herumschrammeln, wie es jede pickelige Anfängerband mit besserem Equipment auch hinkriegen würde. Und natürlich waren die Texte schon immer cringe. Was Teenager eben für provokant oder ergreifend halten. Nur daß Lindemann es mit 70 immer noch macht, oder wie alt er auch immer ist.

      Bei Laibach hatte ich dagegen nie das Gefühl, daß die kreativen, musikalischen Fähigkeiten der Musiker den gesamten Rahmen des Projekts ausmachen. Hier soll alles genau so sein, wie es ist. Und das kaufe ich ihnen viiiiiiiel eher ab als ihren Billo-Nachäffern aus Berlin.

    • Vor 2 Jahren

      Vor Rammstein waren doch auch die Krupps mal so in der Richtung deutschem Industrial Metal schon da, oder? Ich mag das Lied "Mein Teil" von Rammstein, da ja der Bezug zum Kannibale von Rotenburg ziemlich krass ist...Vor allem die Live-Version mit dem Wetzen der Messer und beim ersten Hören von der Zeile: "Ich esse weiter unter Krämpfen..." musste ich schon sehr lachen, is für mich aber doch einer der künstlerisch anspruchvollsten-passenden Rammstein-Songs. Auch dieses "Keine Lust"-Lied war auch wegen dem selbstironischem Video schon gut...bloß i-wie ist die Luft danach raus gewesen auch wegen der Überpräsenz allerorts. Ich hatte nach dem 1.sehr guten Album eine lang anhaltende Abwehrstimmung gegen die Band, eben wegen der Omnipräsenz. ...Man kann aber, bei dem ganzen Bullshit von Autotune und hingeschissenen, seichten und total uninnovativen Produktionen, die in der Mehrzahl sind in der deutschen-populären Musiklandschaft noch froh sein, dass es Sie gibt/gab, so als Antipol zu den ganzen aalglatten Mark Fosters und so mMn.

    • Vor 2 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 2 Jahren

      Im Grunde ging es darum, den Anschein zu geben, gewisse Grenzen auszuloten, die schon auf dem Debüt längst ausgelotet wurden. Da spielt Marketing und das Gespür, den nächsten Schockmoment so effektiv wie möglich zu setzen, eine ganz große Rolle. Mehr nicht. Dennoch mag ich Rammstein, aber eher wegen den poetischen Momenten.

    • Vor 2 Jahren

      +++Was Teenager eben für provokant oder ergreifend halten. Nur daß Lindemann es mit 70 immer noch macht, oder wie alt er auch immer ist.+++

      Hören Teenager heute noch Rammstein? Ich habe eher das Gefühl, dass das eher Mitt-40er aus der sogenannten bürgerlichen Mitte konsumieren, die mal was "Spannendes" und "Provokantes" hören wollen, und die die Texte "deep" und die Shows "genial" finden.

    • Vor 2 Jahren

      Ne, richtig. Tatsächlichen Teenagern dürfte das zu blöd sein. Meinte damit "dichtende Teenager". Ist so peinliche Düsterlyrik von jungen Drama Queens.

  • Vor 2 Jahren

    Echt, das ist Metal?
    Dann ist es Helene Fischer wohl auch?
    Man oh man