laut.de-Kritik
Vor diesem Post-Hardcore-Inferno erblassen selbst At The Drive-In.
Review von Dominik KautzAls Quell der Inspiration bei der Namensfindung diente dem jungen Trio aus der westfranzösischen Kleinstadt Saintes der gleichnamige Titel einer Komödie des antiken Dichters Aristophanes. In diesem Klassiker der Weltliteratur üben sich die Bewohnerinnen Athens und Spartas ihren Männern gegenüber in sexueller Abstinenz, um so Frieden zwischen den beiden Stadtstaaten zu erzwingen. So gesellschaftlich radikal der Inhalt dieses Lustspieles, so unorthodox grenzüberschreitend das mit virtuoser Kunstfertigkeit zwischen Noise-, Punk-, Math-, Post-Rock und -Hardcore angesiedelte Soundgerüst von Lysistrata.
Dass die Franzosen sich dabei nicht in spannungsfreien Frickeleien und bremsenden Nebensächlichkeiten verlieren, zeigten sie schon mit ihrem letztjährigen Debütalbum "The Thread" eindrucksvoll, mit dem sie die Messlatte für zukünftige Werke hoch ansetzten. Auf ihrem vor Einfallsreichtum und erbarmungsloser Spontaneität strotzenden Zweitwerk "Breath In/Out" bestätigen sie dieses Bild und bauen es in emotionsgeladenen "neun Songs über Liebe und Hass, Leben und Tod, Jugend und Wahnsinn" weiter aus.
In diesen Jungs lodert ein wütendes, unzähmbares Feuer aus Elementen von At The Drive-In, La Dispute, Refused, Sonic Youth und Fugazi. Dabei kupfern sie jedoch nicht ab, sondern klingen stets eigenständig. Lysistratas rohe Perlen zwingen den Hörer, ex abrupto das Unerwartete zu erwarten.
Bereits der Opener "Different Creatures" macht klar, dass Lysistrata nicht lange fackeln. Von jetzt auf gleich schlägt dem Hörer ein vertrackt vertonter Wahnsinn um die Ohren, dessen destruktiver Energie man sich weder entziehen kann noch will. Nach einem math-artigen Einstieg, einem ruhigeren Post-Rock-Mittelteil und mehreren genretypischen, aber dramaturgisch hervorragend gesetzten Laut-Leise-Passagen explodiert der Song zum Ende hin förmlich in einem atemberaubenden Screamo-Finale. Mehr Eskalation geht kaum, was für ein mächtiger Einstieg in ein Album.
In "Boot On A Thistle" treten sie das Gaspedal dann bis zum Anschlag durch. In bester Punk- und Post-Hardcore-Manier knüppeln und brüllen sich die drei nach einem kurzen Feedback im Up-Tempo äußerst wütend mit aggressiven Riffs, verzerrtem Bass, peitschenden Drum-Salven und sich zügellos überschlagenden Stimmen unter Versen wie "weighed down / made wrong / ignored / all lifelong" durch einen niederschmetternden, ausgesprochen verstörenden Koloss. "Arcansal" von At The Drive-Ins Manifest "Relationship Of Command" lässt hier stellenweise grüßen.
Ein kleines bisschen Luft zum Durchatmen gibt es, allerdings ohne sich melodisch anzubiedern, mit "Death By Embarrassment", dem vielleicht konventionellsten Song der Platte, und "Scissors". Vor allem letzterer zeigt exemplarisch auf, wie gut das Trio das Spiel mit Dynamiken und kompositorischen Spannungsverläufen durch Konstruktion und Dekonstruktion beherrscht. Trotz vieler unvorhersehbarer Wechsel, metrischen Verschiebungen, zügellos-sperrigen Dynamikausbrüchen und dissonanten Attacken wirkt hier alles wie von einem Puppenspieler sorgfältig kontrolliert und direkt auf den Punkt gebracht.
Die vorab veröffentlichte Single "Mourn" entblättert sich als sehr melodiöses, verspieltes Kleinod voller harscher Schönheit und einem dynamischen Wellengang, der immer wieder an den atmosphärischen Sound ihrer Aachener Labelkollegen von Fjørt erinnert. Ein letztes Lehrstück in tonaler Verzweiflung und Depression stellt das finale "Middle Of March" dar. Über einen Zeitraum von fast neun Minuten schälen sich hier, ohne das geringste Anzeichen eines Refrains, verfremdete, an Funkverkehr erinnernde Spoken Word-Parts neben einer bedrückenden, leicht angezerrten Melodie der Gitarre aus dem Raum, bevor ausgedehnte und stampfende Noise-Offensiven als Grande Finale am Ende des Songs alles zu Boden reißen und versenken.
Lysistrata liefern einen fesselnden und zugleich aufwühlenden, brachial-sperrigen Post-Hardcore-Brocken voller eruptiver Energie, neben dem selbst alternde Szene-Götter wie At The Drive-In erblassen. Alles auf dieser Platte klingt auf wunderbar entrückte Weise harmonisch disharmonisch. Das macht "Breath In/Out" zu einem der besten Genre-Releases des Jahres 2019.
Zweifelsohne steckt in diesem Trio das Potential, groß zu werden. Ihre atemberaubend ekstatischen Konzerte bestreiten die Franzosen derart kraftvoll, dass sie reihenweise für offene Münder und staunende Gesichter sorgen. Diese Band muss man einfach live sehen. Im März des kommenden Jahres befinden sich die Newcomer auf einer ausgedehnten Tour durch Deutschland. Hingehen, durchatmen, ausrasten!
1 Kommentar mit einer Antwort
"Relationship of Command" finde ich ja von Omars Werken schon am allerödesten. Ich bin aber ziemlich sicher, daß At The Drive-In im Einleitungsteaser nur genannt wurden, um eine bestenfalls mittelprächtig interessante Band mit fremden Federn zu schmücken.
Vielleicht höre ich mir die Band aber wirklich an, obwohl bei mir diese Art der flachen Beschreibung fast schon Trotzreaktionen ausgelöst.
Nur dass ich das richtig verstehe:
Du findest von allen Mars Volta, At The Drive-In, den ca. fünfzig Soloalben Omars und seinen anderen Projekten "Relationship of Command" am ödesten?
Ist auf jeden Fall eine Meinung, die ich so noch nicht gehört habe.