laut.de-Kritik

Der Antichrist flirtet offen mit dem Pop.

Review von

Es gibt derzeit wohl kein besseres Beispiel dafür, dass Totgesagte länger leben, als Marilyn Manson. Die Nullerjahre waren für den bleichen Bürgerschreck nicht die fruchtbarste Zeit, das Make-up war oft vielschichtiger als die Musik. Zwischenzeitlich räumte er sogar ein, mehr an der Malerei (und am Absinth) interessiert zu sein als an der Musik – was man auch hören konnte. Als Fan mochte man nur mehr in schummrigen Ecken zugeben, dass man Manson einst ganz gut fand.

Vorbei sind diese Zeiten erst, seit Tyler Bates des Weges kam und den 'God of Fuck' wachküsste: Der Komponist von Film- und Serien-Scores schneiderte ihm ein eigentliches Comeback-Album auf den Leib: "The Pale Emperor", Mansons 2015 erschienenes 'Blues-Album'. Als das Duo das ebenfalls starke "Heaven Upside Down" folgen ließ, war Manson endgültig rehabilitiert.

Entsprechend hoch sind nun die Ansprüche an "We Are Chaos". Zumal eine große Unbekannte mitschwingt: Statt sein Glück mit Bates überzustrapazieren, spannte Manson erstmals mit Shooter Jennings ein, dem Countrymusiker. Und darin liegt eine große Finte: Wer nämlich erwartet, nun einfach Manson 'Country-Album' zu erhalten, wird schwer enttäuscht. Vielmehr tauchen die beiden so tief in die Glam- und Wave-Einflüsse aus Mansons Jugendzeit ein wie seit "Mechanical Animals" nicht mehr.

Selbst der Albumtitel ist eine Irreführung: Hinter "We Are Chaos" verbirgt sich kein wilder Rundumschlag. Im Gegenteil, 2020 flirtet der Antichrist Superstar sogar unverhohlen mit dem Pop. Das kann gerade bei den ersten Hördurchgängen irritieren, ist aber nur folgerichtig. Manson mag im Laufe seiner Karriere viele Trademarks angesammelt haben, doch die reine Wiederholung war nie sein Ding. Was freilich auch damit zusammenhängt, dass seine Band – als er sie für das Songwriting überhaupt noch einband – so gut wie nie durch ein stabiles Line-up glänzte.

Gleichwohl zeigt sich auf dem neuen Album, dass ein unverbrauchter Ansatz noch kein Garant für Großartiges ist. Denn auch wenn vieles auf "We Are Chaos" richtig gut ins Ohr geht, kränkeln einige Songs an Arrangements oder Texten.

So lässt sich etwa feststellen, dass heavy knallende Riffs, wie sie eben doch zu jeder Manson-Platte gehören, nicht zu Jennings Stärken zählen. Zu hören ist das auf dem eröffnenden "Red, Black, And Blue": In den Strophen schrubbt die Gitarre im obligaten gedämpften Stakkato, im Refrain folgt dann ein dröhnender Riffdreiklang. Bis auf ein erstes Darkpop-Intermezzo ist das Manson nach Zahlen.

Der Titeltrack wurde bereits vorab veröffentlicht und gibt die Grundstimmung schon besser wieder: Akustikgitarre, eine ungewohnt warme Aura, die Assoziationen an Bowie und selbst die Beatles weckt – und ein Refrain, der einem nicht mehr aus dem Kopf will. Ein scheues "fucked up" ist das einzig Anstößige weit und breit, stattdessen hallen viel Melancholie und eine Verletzlichkeit durch den Song, wie es sie seit "Eat Me, Drink Me" nicht mehr zu hören gab.

"Don't Chase The Dead" wandelt musikalisch auf ganz ähnlichen Pfaden – den Blick fix auf die Achtzigerjahre gerichtet. Wieder tauchen hier diese gänzlich unironisch poppigen Passagen auf, an die man sich erst gewöhnen muss, die sich aber auch als unwiderstehlich catchy herausstellen. Bloß legt das hier zugleich eine Schwäche offen, die im Verlauf der Platte immer wieder auftaucht: nichtssagende Lyrics.

Manson hatte vorab erklärt, dass er den Fokus dieses Mal auf sein 'Museum an Erinnerungen' richten würde. Wobei Introspektive kaum seine beste Seite als Lyriker hervorkehrt, siehe "Eat Me, Drink Me". Das wiederholte "Don't chase the dead, or they end up chasing you" klingt frustrierend banal. Das gleiche gilt für Passagen aus "Keep My Head Together": Das pseudoclever Wortspiel "I fuckin love you / love fucking you". Oder auch " Don't try change to someone else, you'll just end up changing yourself". Da war echt nichts Besseres drin? Und das von dem Mann, der sich in den Neunzigern komplexe Hintergrundstorys für seine Songs ausgedacht hatte? Diese Message könnte auch von einer Katy Perry stammen.

Bleiben wir gleich beim Pop: Da ist es ein Hit or Miss. "Paint You With My Love" ist eine starke Pianoballade, die einmal mehr extrem nach Beatles-Hommage klingt und erst gegen Ende ein wenig ausbricht. Hier zeigt sich dafür exemplarisch eine der großen Stärken der Platte: Was Manson an lyrischer Finesse vermissten lässt, macht er mit gesanglicher Leistung wett. Er singt in der Form seines Lebens, und so nackt wie hier – ohne die üblichen Studioeffekte – hat man seine Stimme noch nie gehört. Herrlich! Weniger glücklich geht die Pianopop-Formel in "Half-Way & One Step Forward" auf, das zumindest mich so gar nicht mitzureißen vermag.

Dass er auch noch etwas kraftvoller zubeißen kann, zeigt Manson in "Perfume": Mit seinem stampfenden Rhythmus erinnert das stark an "The Pale Emperor" und zählt zu den Highlights der zweiten Albumhälfte. Auch das bereits erwähnte "Keep My Head Together" gehört musikalisch zu den schmissigeren Tracks und fährt wunderbar schlampige Gitarrensoli auf.

"Solve Coagula" rückt dann wiederum die Melancholie in den Vordergrund, und das balladeske "Broken Needle" spannt diesen Bogen fort. "Are you alright? Cause I'm not okay" wimmert der furchteinflößende Antichrist Superstar von einst hier über Pianoklängen. Man möchte ihm glatt eine Decke um die Schultern legen.

Marilyn Manson kann also auch mit seinem elften Studioalbum und in diesem Stadium seiner Karriere noch überraschen. "We Are Chaos" ist sein melodiösestes und aufgeräumtestes Werk seit Langem. Über die behagliche Formel Strophe-Refrain-C-Teil geht hier nichts hinaus. Gleichzeitig ist es sein mit Abstand bravstes. Stellenweise sogar etwas zu brav. Gut, das sind 'champagne problems', wie er sie an einer Stelle so schön besingt, aber auf den Vorgängern gab es die halt nicht.

Trackliste

  1. 1. Red, Black, and Blue
  2. 2. We Are Chaos
  3. 3. Don't Chase The Dead
  4. 4. Paint You With My Love
  5. 5. Half-Way & One Step Forward
  6. 6. Infinite Darkness
  7. 7. Perfume
  8. 8. Keep My Head Together
  9. 9. Solve Coagula
  10. 10. Broken Needle

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2 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Warum taucht das hier im Oktober 23 als neue Rezi auf?

  • Vor 3 Monaten

    Schön zu sehen dass sich auch der Herr Warner noch nach all den Jahren neu entdecken kann. Starkes Album, ein wenig Mainstream aber Marilyn Manson galt ja innerhalb der Metalszene tatsächlich eh meistens als Mainstream den nur "Poser-Kids" hören. Tatsächlich waren der Mann, seine Shows und seine Musik stets alles andere als mainstream-tauglich.

    • Vor 3 Monaten

      Ich bin mal gespannt, wie das neue Album wird. Man kann ja auf YouTube mittlerweile ziemlich viele Auftritte sehen, die aus den letzten Tagen stammen. Anscheinend hat Manson wieder in die Spur gefunden. Der Drogen- und Alkoholentzug scheint ihm tatsächlich die Freude an der Musik zurück gebracht zu haben.
      Seien wir ehrlich, das letzte Jahrzehnt konnte man auftrittstechnisch komplett in die Tonne treten. Entweder war er zu besoffen, high oder hatte keinen Bock. Meistens alles auf einmal.

    • Vor 2 Monaten

      naja mich haut manson schon lange nicht mehr um

      hier mal meine Rezi für alle Albungen:

      1. poaf: 8/10
      2. as: 10/10
      3. ma: 8/10
      4. 7/10
      5. gaog: 9/10
      6. 8/10
      7. heol: 6/10
      8 born villain: 6/10
      9. pale emperor: 7/10
      10. husd: 6/10
      11. we are chaos: 7/10

      alles im allen ist der schon ganz solide geblieben. die neuen singles überzeugen mich aber nicht

      as ist natürlich herausragend und die drei folge alben basssen aa

      eat me drink me ist ein ganz gutes alternative albong

      ab dann wirds schon sehr durchwachsen