laut.de-Kritik
Als sänge Billie Holiday bei Portishead.
Review von Ulf KubankeSachte aufflackernd und gramvoll läutet das Piano den Song ein. Behäbig bahnt sich der dezente Beat seinen Weg durch ein klaustrophobisches Klangbild. Ist das noch Entspannung oder schon Betäubung und Depression? Aus dem Nichts taucht ein rauchiges Timbre auf, das zu einem Hohelied der Betrübnis ansetzt: Die Freiheit des untreuen Partners ist ihr eigenes Ende. So intensiv eröffnet "Your Freedom Is The End Of Me" Melanie De Biasios viertes Album "Lilies".
Die belgische Sängerin verkörpert das Beste mehrerer Welten und bleibt doch ganz und gar sie selbst. Wie Billie Holiday transportiert sie sexuell aufgeladenen Fatalismus plus sinistre Romantik. Von Nina Simone hat sie den samtig rauhen Grundton. Die Lieder sind teils eng verwandt mit Portishead oder Mark Hollis' Soloalbum. Zu guter Letzt nimmt sie sich von ihrer Heimatstadt Charleroi die postindustrelle Niedergeschlagenheit einer ehemals florierenden, nunmehr heruntergekommenen Gemeinde. Ihre Songs haben konstant den Blues.
Stilistisch ist "Lilies" kaum in eine Schublade zu packen. Besteht dieser akustische Film Noir aus Soul, Jazz, Blues, Trip Hop, gar ein wenig Chanson? Um derlei Grenzen kümmert sich die schwarz klingende weiße Musikerin keine Sekunde lang. Stattdessen lotet sie alle Aspekte der Stille aus, um daraus das totale Gefühl zu destillieren.
Zu diesem Zweck schottete sie sich und ihre Band komplett von der Außenwelt ab. In einem kargen, fensterlosen Ministudio horchte sie tief in sich hinein und brach aus ihrem Herzen alle Stimmungen heraus: "Ich habe tatsächlich einen tiefen Zugang zu meiner Traurigkeit." Die Geburt der "Lilies" basiert rein auf der alten Weisheit, dass Improvisation immer auch Konstruktion bedeutet. So paradox es klingt: Innerhalb des beengten, unkomfortablen Raumes entstand eine Intimität, die für De Biasio absolute musikalische Freiheit bedeutete. Etliche Lieder entstanden aus spontanem Flüstern oder Hauchen.
Entstanden ist die Idee des leisen Singens aus einer tiefen Krise. Nach verschleppter Lungenerkrankung verlor sie die Stimme. Lange Zeit war ungewiss, ob sie je wieder werde singen können. Mittlerweile ist gewiss, dass es nur in gedrosselter Lautstärke funktioniert. Aus der Not modellierte sie eine charismatische Tugend: "Until my last breath, Baby, I'm alive / So you are doomed to be mine!"
Die Zärtlichkeit, mit der sie die Silben artikuliert, findet sich in der instrumentalen Begleitung eins zu eins wieder. Mitunter pulsiert die Musik behaglich, scheint gar um sie herum zu schleichen wie der nächtlicher Besucher um ein einsames Haus ("Brother"). Dann wieder verlassen die Songs den minimalen Groovekontext zugunsten einzelner Noten oder Akkorde, die elegisch, beinahe wehmütig im Raum stehen. Hierdurch bekommt jeder einzelne Ton ein fleischiges, sehr zentriertes Eigenleben innerhalb sparsamer Arrangements ("Lilies").
2 Kommentare mit 8 Antworten
Der Gesang transportiert durch seine Rauchigkeit etwas überaus Sinnliches und Erotisches, während die Arrangements genug Bodenhaftung besitzen, um das Ergebnis nicht all zu ge- und verkünstelt klingen zu lassen. Musikalisch auf der selben Augenhöhe mit den düsteren Nacht-Jazz von "No Deal". Da hätte man durchaus eine 5/5 zücken können.
ja, hätte man. aber was sind schon punkte? das ist ja eh nur das zugeständnis an formatierte schulnotenerwartungen. wenn es nach mir ginge würde man unter die texte gar keine zensuren schreiben. es ergibt sich alles aus der lektüre des textes.
Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.
die story dahinter mit dem stimmenverlust finde ich auch heftig. unfassbar, dass es ohne die katastroph womöglich nie zu diesem sinnlichen ausdruck gekommen wäre.
die story dahinter mit dem stimmenverlust finde ich auch heftig. unfassbar, dass es ohne die katastroph womöglich nie zu diesem sinnlichen ausdruck gekommen wäre.
Sehe ich im Grunde auch so. Es eher eine aktuelle Einschätzung und Kontextualisierung innerhalb eines Genres. Welchen Stellenwert eine Platte tatsächlich besitzt, zeigt sich später ohnehin. The Mars Volta und GY!BE haben hier zum Beispiel nur 2 Punkte bekommen. Entsprechende Platten gelten heute als wegweisend.
Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.
Die Sache mit dem Stimmverlust erinnert mich irgendwie an Tony Iommy, der halt durch einen Unfall gezwungen war, seine Gitarre tiefer spielen zu müssen.
Durch eine Beschränkung entsteht doch immer wieder gute Kunst. Höre sie gerade – gefällt mir soweit gut. Die Produktion ist angenehm zurückhaltend. Toller Tipp.
gern geschehen