laut.de-Kritik
Das brasilianische "Pet Sounds", ambitioniert und facettenreich.
Review von Moritz FehrleWenn man hierzulande an brasilianische Musik denkt, dann kommen zuerst, wenn überhaupt, Rio de Janeiro und der Bossa Nova in den Sinn. Eine der großen Doppel-LPs der Musikgeschichte und eines der beeindruckendsten Stücke brasilianischer Popkultur kommt aber von einem Musikerkollektiv aus Belo Horizonte in der Region Minas Gerais. Anfang der Siebzigerjahre hatte sich dort eine etwa zwölfköpfige, lose organisierte Gruppe um den Sänger Milton Nascimento, die beiden Brüder Lô und Marcio Borges oder den Schriftsteller Fernando Brant zum "Clube Da Esquina", zum Klub an der Ecke, zusammengetan.
In Brasilien erreicht zu diesem Zeitpunkt unter dem damaligen Präsidenten, dem General Emílio Garrastazu Médici, die repressive Militärdiktatur ihren Höhepunkt. Mit Hilfe der Geheimdienste werden Oppositionelle, Journalist*innen und Kunstschaffende überwacht und missliebige Personen verhaftet. Aus den Gefängnissen dringen Berichte von Folter und Misshandlungen. Zahlreiche Musiker wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil fliehen vor dem repressiven Unterdrückungsapparat ins Ausland. Neben der Angst vor Verhaftung herrscht in eigentlich allen journalistischen und künstlerischen Bereichen eine rigide Zensur.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist diese traurige historische Episode auch die wohl beeindruckendste Phase der brasilianischen Musikgeschichte. Innerhalb nur weniger Monate entstehen hier Meisterwerke wie "Construção" von Chico Buarque, "Acabou Chorare" von den Novos Baianos oder eben das selbstbetitelte Debütalbum des Klubs an der Ecke. Die Doppel-LP ist ein opulent orchestrierter Mix der verschiedensten Ideen, voller feiner Nuancen und plötzlicher Brüche, ein fantastisch abgemischtes und aufeinander abgestimmtes Album.
"Clube Da Esquina" enthält einige der denkwürdigsten Spannungsbögen der gesamten populären Musikgeschichte. Während manche Momente auf dem Album eher skizzenhaft geraten sind, sind Stücke wie der Opener "Tudo Que Você Podia Ser" absolute präzise aufgebaut. Hier steckt Spannung in jeder Note, Instrumente steigen ein und greifen wirkungsvoll ineinander und über allem thront die eindrucksvolle Stimme von Milton Nascimento, die auf dem Höhepunkt dramatisch bricht oder in ein kalt bohrendes Falsett wechselt.
Die gleiche unbarmherzige Kälte zeigt sich auch auf "Nada Será Como Antes". Hier teilt sich Nascimento die Gesangstimme mit Beto Guedes, der auf dem Album von Bass über Gitarre bis Percussion gefühlt jedes Instrument einmal bedient. Ohne Rücksicht werden Nascimento und Guedes von der Rhythmusgruppe nach vorne getrieben, während sie davon singen, dass es sie wieder auf die Straße hinauszieht und dass morgen nichts mehr so sein wird wie es einmal war.
Das von Nascimento geschriebene "Cais" wirkt wie ein Klagelied auf die Zustände in der Heimat. Auf dem sparsam instrumentierten, balladesken Stück entwirft der Sänger Bilder vom Meer, von Häfen und von einem Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, bis nach etwa anderthalb Minuten ein harmonischer Wandel einsetzt. Aber anstatt sich zu öffnen oder gar zu lösen, verschließt sich "Cais" immer weiter. Die zweite Hälfte ist noch minimaler, besteht nur aus einer Stakkato-haften Klavierbegleitung und Nascimentos wortlosem Falsett, und driftet zum Ende hin relativ plötzlich aus. Bloß eine musikalische Skizze, vielleicht, aber eben eine wirklich geniale.
Ähnlich berührend ist "Um Girassol Da Cor Do Seu Cabelo", in dem das Ende einer Beziehung thematisiert wird. "Wenn ich singe, dann weine nicht", singt Lô Borges, damals gerade einmal zwanzig Jahre, zu einer tieftraurigen Melodie, bevor kakophonische Streicher das Lied zerschneiden und ihm einen düsteren und abgründigen Charakter verleihen. Aus diesem Abgrund heraus steigt wie von fern ein einzelnes Klavier hervor und peitscht das Lied zusammen mit einsetzenden Gitarren und Schlagzeug noch einmal nach vorne. "Um Girassol Da Cor Do Seu Cabelo" ist ein dramatisches Lied mit vier musikalisches Akten und mit seinem Facettenreichtum unter den vielen denkwürdigen Momenten auf "Clube Da Esquina" vielleicht das beste Stück.
Obwohl die Grundstimmung über die gesamte Spieldauer meist eher düster und melancholisch ist, gibt es auch sehr lichte Momente auf dem Album. "Paisagem Da Janela" etwa ist ein beschwingt nach vorne preschender Ohrwurm. Hier zeigt sich vielleicht auch der viel beschworene Einfluss der Beatles auf das Kollektiv am stärksten. Auch "Cravo E Canela" ist ein sehr fröhliches und schnelles Stück.
Gerade wegen dieser großen Varianz und musikalischen Dichte hat der "Clube Da Esquina" über die Jahre auch eine Fangemeinde außerhalb des portugiesischen Sprachraums aufgebaut. Zu seinem Kultstatus trägt sicher auch das ikonische Cover bei (das entgegen eines populären Mythos nicht Milton Nascimento und Lô Borges als Kinder zeigt). Aber seinen Siegeszug hat es doch der Tatsache zu verdanken, dass es in punkto Ambition und Ideenreichtum nur ganz wenige Alben mit diesem Meilenstein aufnehmen können.
"Clube Da Esquina" ist das brasilianische Pet Sounds, ein Album, so groß und so vielschichtig angelegt ist, dass es eigentlich scheitern müsste. Oder um es mit dem britischen Electro-DJ Four Tet zu sagen: "Clube Da Esquina is an all time masterpiece, and everyone needs to hear that record. It should be taught in schools."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare
Sehr schöne Entdeckung von Brasilianischer Musik.
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.