laut.de-Kritik
Statt Sex, Drugs & Rock'n'Roll gibts Sofa, Bier & Netflix'n'Chill.
Review von Manuel BergerMachine Gun Kelly gibt im Titeltrack die Richtung vor: "Give me more sex, more tats, more blood, more pain, more threats, more theft, torn jeans, cocaine / More pretty strippers with the big red lips making big tips, showing off the nice big tits, ha!" Für die Bühne sind Mötley Crüe inzwischen vielleicht zu alt, im Studio ließen sie ihre 80er zumindest gedanklich nochmal aufleben, mit dreieinhalb neuen Songs zum Soundtrack des nun auf Netflix erschienenen Band-Biopics "The Dirt".
Will man vom Klischee "Sex, Drugs und Rock'n'Roll" in seiner ganzen überspitzten Pracht erfahren, gehört die Crüe-Biografie "The Dirt" zur Pflichtlektüre. Ihre Instagram-Accounts füllen Nikki Sixx und Tommy Lee zwar inzwischen mit gesitteten Familienfotos. Fürs Heimkino frönten sie trotzdem nochmal den berüchtigten "Bitte nicht nachmachen"-Zeiten.
Das von der Band selbst co-produzierte Biopic hat eine ähnlich turbulente Entstehungsgeschichte wie Queens Kinoerfolg "Bohemian Rhapsody", und gelingt tatsächlich ähnlich gut! Aber reden wir zuerst über die neuen Songs der zumindest live mittlerweile inaktiven Sleaze-Rocker.
"The Dirt (Est. 1981)" eröffnet die Platte und hält tatsächlich mit den alten Gassenhauern mit. Der Refrain geht sofort ins Ohr, Nikki Sixx' Bass grollt, Vince Neil packt die Mickymaus aus und Mick Mars gniedelt ein paar vorhersehbare, aber tighte Bending- und Hammering-Gitarrenleads. Alle Trademarks vorhanden, solide ausgespielt, fertig ist der 80er-Throwback. Sogar der oben erwähnte Gastauftritt von Rapper Machine Gun Kelly (der im Film Tommy Lee verkörpert) klappt reibungslos und wirkt irgendwie passend klischeebehaftet und aus der Zeit gefallen.
Dass die Herren ihr Alter noch nicht so recht wahrhaben wollen, merkt man spätestens beim abschließenden Coversong "Like A Virgin". Es sorgt mindestens für Stirnrunzeln, wenn der fast 60-jährige Vince Neil Madonnas Jungfrau-Sprachbilder adaptiert. Musikalisch geht die Nummer okay, klingt aber arg routiniert (um nicht zu sagen einfallslos) runtergrockt.
"Ride With The Devil" und "Crash And Burn" leiden am gleichen Symptom, wobei ersterer mit seiner aus dem Titeltrack übernommenen Schlüsselzeile "Gimme the dirt" schon etwas faul wirkt. Bei "Crash And Burn" bemüht die Band ein paar moderne Elemente, was auflockert, aber von Papa Roach interpretiert wahrscheinlich um Einiges besser geklungen hätte. Trotzdem eine nette Zugabe zum eigentlichen Soundtrack.
Durch den Retrospektive-Teil führen Mötley Crüe mit 14 Songs ihrer Frühphase bis "Dr. Feelgood". Weiter erzählen sie auch im Film nicht. Wahrscheinlich eine gute Entscheidung. So vermeidet Regisseur Jeff Tremaine ("Jackass") unnötige Längen nach hinten hinaus. Nikki Sixx’ Drogenkampf und Vince Neils temporärer Abschied aus der Band funktionieren so als Spannungshöhepunkte und ebnen den Weg zu einem triumphalen Filmfinale.
Auch wenn die in Deutschland erteile FSK 18-Altersfreigabe anderes impliziert, setzt Tremaine auf viel Handlung, statt schlicht Brüste, Koks und Ausschreitungen abzufilmen. Von einer Glorifizierung des im Falle Mötley Crües zweifellos destruktiven Sex, Drugs und Rock'n'Roll-Lifestyles bleibt "The Dirt" weit entfernt.
Seine intensivsten Momente erreicht Tremaine, wenn er kurz, aber wirkungsvoll Tommy Lees Gewalt gegen Frauen thematisiert und Nikki Sixx mit verdreckter Nadel Heroin pumpen lässt. Die Schauspieler (neben Machine Gun Kelly mit dabei: "Game Of Thrones"-Bösewicht Iwan Rheon als Mick Mars) überzeugen auf ganzer Linie, inklusive Tony Cavalero, der einen herrlich komischen Gastauftritt als Ozzy Osbourne absolviert.
Vielleicht das Wichtigste: Die Songs sind stimmig, oft als Auftritte in die Filmstory eingebettet und werden dabei lange genug ausgespielt, um Fans zu befriedigen, aber auch knapp genug gehalten, um den Handlungsfluss nicht zu stören und Zuschauer bei der Stange zu halten, die sich "The Dirt" nicht primär wegen der Musik ansehen. Genau die erhalten zumindest einen groben Überblick über das Schaffen der Crüe und merken, dass sie die wichtigsten Songs wie "Girls, Girls, Girls", "Kickstart My Heart", "Shout At The Devil", "Home Sweet Home", "Looks That Kill" etc. wohl doch schon einmal irgendwo gehört haben.
Die Zeiten von "Sex, Drugs & Rock'n'Roll" mögen vorbei sein. Im "Sofa, Bier, Netflix'n'Chill"-Zeitalter leben Mötley Crüe nun zumindest für 108 Minuten in der Flimmerkiste oder etwa eine Stunde im CD-Player weiter. Das ist im Endeffekt wahrscheinlich besser als in real life. "Are you ready girls?"
2 Kommentare
Der Text ist gut, impliziert aber mal mindestens 4 ⭐️!
der film ist durchaus unterhaltsam, musik natürlich abartig.