laut.de-Kritik
Warum durfte man hier bloß nicht dabei sein?
Review von Michael SchuhTränen liefen nicht, zu geschockt war jeder. Nicht, dass das Benicassim-Festival 2004 sonst keine Klasse-Acts zu bieten gehabt hätte, auch nicht, dass hier der falsche Eindruck entsteht, es wäre nicht herrlich gewesen, sich vier Tage auf dem Zeltplatz am Mittelmeer die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, ohne sich Sorgen um atypische Open Air-Regengüsse machen zu müssen. Über 1.400 Wohnmobil-Kilometer lagen bereits hinter uns, und mit ihnen solch idyllisch klingende Ortschaften wie Peniscola. Aber das alles eben vor allem für einen Mann.
Das Ende ist bekannt. Vier Sechstel unserer Urlaubsrunde sollten bald in grausam exorzistischer Art zu spüren bekommen, was Signore Morrissey unter einer Auftrittszusage versteht, nämlich eine lose, bei geringsten Unwägbarkeiten der Tageslaune nicht ernst zu nehmende Verpflichtung. Während wir auf dem Festivalgelände bereits geifernd seinen Bühnenaufbau betrachteten, gebannt die neun Buchstaben seines Namens anstierten, tönte plötzlich etwas Spanisches aus den Lautsprechern. Zuerst machte man noch Scherze ("Haha, er kommt nicht"), wie das eben so ist, wenn man vor lauter Vorfreude schier platzt und nicht begreifen kann, was man insgeheim schon weiß.
Was kurz darauf tatsächlich platzte, waren all die Träume eines unvergesslichen Auftritts, da Seine Erlauchtheit als Einziger aus der Morrissey-Liveband nicht pünktlich in Benicassim eingetroffen war. Die wahren Gründe soll er gerne mit ins Grab nehmen. (Wer diese herzergreifende Story gerne noch aus einem anderen Blickwinkel lesen möchte, der goutiere die DVD-Review zu "Who Put The 'M' In Manchester")! Allein die Vorstellung, dass Morrissey damals bei mediterranen 25°C zu den umwerfenden Gitarren-Rückkopplungen des Smiths-Klassikers "How Soon Is Now" die Bühne betreten hätte, möglicherweise noch im Glanze der "Morrissey"-Lightscreens, nimmt mir den Atem. Die atmosphärische Neubearbeitung rückt den Klassiker in ein ganz neues Licht, in den Strophen denkt man sogar kurz, Mozzer könnte auch Oasis' "Cigarrettes And Alcohol" neu interpretieren.
17.183 Zuschauer, so genau will es das CD-Booklet, sahen ihn dafür ein paar Monate später, am Abend des 18. Dezember 2004 im renommierten Londoner Earls Court. Seine Begrüßung folgt nach dem schlauen Opener-Übergang in "First Of The Gang To Die" und lautet schlicht "Thank you for coming here, thank you for being you". Und eines ist hier schon klar: Morrisseys Comeback ist auch auf der Bühne fantastisch. Seine angeblich nicht nachbearbeitete Stimme ist fabelhaft und klingt live gerade durch manch stimmlichen Umbruch noch voller als auf "You Are The Quarry".
Nebenbei rollt er das "R" furchterregender als allseits bekannte Rock-Rabauken und spielt in Ansagen mal wieder den ironischen Narziss: "If you got the time and you don't mind, let me kiss you." Nichts will die Menge lieber. Begeistert schreit sie nach den ersten Sekunden von "Big Mouth Strikes Again" auf, in dem der Schelm nicht wie 1986 den Walkman, sondern den iPod schmilzen lässt. Von den Smiths folgen später noch "There Is A Light That Never Goes Out" (herrlich verlangsamt), "Shoplifters Of The World Unite" und, nach dem eigentlichen Schlusspunkt "You Know I Couldn't Last", auch noch "Last Night I Dreamt That Somebody Loved Me" vom letzten Smiths-Album 1987.
Am beeindruckendsten ist der druckvolle Live-Sound seiner Band, die weder mit ruhigen Momenten, noch in ausufernden Rock-Passagen überfordert scheint, allen voran das Zusammenspiel der Gitarristen Boz Boorer und Jesse Tobias (Ex-Mother Tongue). Will man hier überhaupt Favoriten nennen, dann "November Spawned A Monster" (mit geiler Mariachi-Trompete, wie auch in "Let Me Kiss You") und der neue Uptempo-Rocker "Don't Make Fun Of Daddy's Voice" mit zirpender Orgel und einem enthusiastischen Morrissey. Auch die B-Seite "Munich Air Disaster 1958" kommt schön zum Tragen, in Kombination mit der New York Dolls-Nummer "Subway Train".
Nicht ganz so nötig wäre die Patti Smith-Nummer "Redondo Beach" gewesen, aber sei's drum. Die Freude ist ganz auf der Seite des Hörers. Vor allem bei Morrisseys berüchtigten Text-Wortspielchen, wie dem Seitenhieb auf das elende Journalistenpack in "November Spawned A Monster": "Jesus made me so he should save me from pity, sympathy and idiots (!) discussing me, yes i am a freak and nothing can make good (...)" Deshalb hören wir jetzt auch auf mit der Diskutiererei, warum er nicht vielleicht noch "The Boy With The Thorn in His Side" gespielt hat, wie es damals in Spanien Belle & Sebastian taten, zum Trost der Armada an Morrissey-Fans. Schließen wir einfach mit seinen Abschiedsworten: "Don't forget me! I love you! Goodbye!"
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