laut.de-Kritik
"Das Ende der Unschuld von Seattle" (Chris Cornell).
Review von Sven KabelitzIch höre tote Menschen. Sie sind überall. Auf ewig in ihren Aufnahmen gefangen, führen David Bowie, Prince und Sharon Jones ein Leben nach dem Tod. Die Grunge-Ära der Neunziger ist fest mit den tragischen Geschichten von Kurt Cobain, Layne Staley, Scott Weiland, Shannon Hoon und Kristin Pfaff verknüpft. Jedes einzelne Schicksal erinnert uns an unsere eigene Vergangenheit und Vergänglichkeit. Mitten unter ihnen bewegt sich Andrew Wood, der "Man Of Golden Words", dem es nicht einmal vergönnt war, die Veröffentlichung des Mother Love Bone-Debüts "Apple" mitzuerleben. Am 19. März 1990, drei Monate vor Release, starb er an einer Überdosis Heroin.
Die aus dem Grunge-Archaeopteryx Green River und Malfunkshun entstandene Band steht im Mittelpunkt einer ewigen "Was wäre wenn"-Geschichte. Im hallüberzogenen Klang noch deutlich den Achtzigern zuzuordnen, hört man auf "Apple" und der EP "Shine" an allen Ecken und Enden bereits die prägnanten Musiker Stone Gossard (Gitarre) und Jeff Ament (Bass). Beide sollten mit ihrer Nachfolgeband Pearl Jam maßgeblich den Seattle-Sound definieren. Wahrscheinlich sogar mehr als Nirvana.
Wood hingegen wollte so gar nicht in die kommende Zeit passen. Anstelle von Flanellhemden, kaputten Jeans und Band-T-Shirts bevorzugte er Schminke, Rüschen und Boas. Als wäre all dies noch nicht genug, spielte er zudem Klavier, klang wie Ozzy Osbourne auf Helium und bezeichnete Freddie Mercury als Vorbild. Schwer vorstellbar, dass die verzweifelten Jugendlichen im Jahr 1991 anstelle von "Oh, I, oh, I'm still alive / Hey, I, oh, I'm still alive" ("Alive") voller Inbrunst Zeilen wie "Ugly morning / She's a Jezebel's daughter / She's like a Brunnhilda / A child of the water" ("Bone China") mitgesungen hätten. Ohne Woods Tod wäre wohl einiges anders verlaufen.
Spätestens die Verwendung von "Chloe Dancer/Crown Of Thorns" im "Singles"-Filmsoundtrack, auf dem sich Mother Love Bone an der Seite von Alice In Chains, Soundgarden, Smashing Pumpkins oder Screaming Trees wieder fanden, rückte der Sänger doch noch in das Interesse der Öffentlichkeit. Die kurz darauf folgende Compilation "Mother Love Bone" vereinte 1992 "Apple" mit "Shine". Nach 24 Jahren des Schweigens ergänzt "On Earth As It Is: The Complete Works" diese mit B-Seiten, alternativen Versionen, Demos, Live-Performances, bisherigen Raritäten und der Dokumentation "Love Bone Earth Affair".
Gerade das herausragende "Chloe Dancer/Crown Of Thorns", das man für "Apple" unverschämterweise von seinem "Chloe Dancer"-Intro kappte, zeigt die zwei Welten, zwischen denen Mother Love Bone pendelten. Als Piano-Ballade im Stil eines alternativen "November Rain" beginnend, entwickelt es sich in den weiteren spannungsgeladenen acht Minuten zunehmend zu einem fast typischen Pearl Jam-Track. Hier sticht vor allem Gossards ausschweifendes Solo hervor. Kein Wunder also, dass Eddie Vedder und Co. den Song, ebenso wie "Hunger Strike", in Erinnerung an Wood auch heute noch live immer wieder ins Programm nehmen.
Das Stück beschreibt den Zerfall der Liebe im Angesicht des alltäglichen Drogenrauschs.
"Dreams like this must die." Wood verarbeitet die giftige Trennung von seiner Freundin und Muse Xana La Fuente. Zur Unterstützung der Band plante sie einst eine Karriere als Stripperin, verließ den Club jedoch bereits nach einer Stunde schon wieder. "This is my kinda love / It's the kind that moves on / It's unkind and leaves me alone."
Das schleppende "Stardog Champion" erinnert hingegen eher an Soundgarden. Das andere Grunge-Urgestein, in der Woods ehemaliger WG-Mitbewohner und Freund Chris Cornell sang. Eine akustische Gitarre und der zum Ende eingesetzte Kinderchor ("Not, not now") durchbricht diesen Eindruck. Das ungezügelte "Heartshine" durchziehen ein hektisches Schlagzeug, harte Riffs und abwechslungsreiche Breaks. "Ich sehe 'Heartshine' als unser 'Achilles' Last Stand' an", erklärte Andrew Wood in seinem letzten Interview.
Letztendlich sind es jedoch die emotionale Intensität der Balladen wie "Chloe Dancer/Crown Of Thorns", "Gentle Groove" und "Man Of Golden Words", Woods Texte und sein Klavier, die Mother Love Bone vom Rest der damaligen Bands unterscheiden. Die musikalische Vielschichtigkeit auf "Apple" und "Shine" lässt erahnen, dass für Wood und seine Gruppe weitaus mehr drin gewesen wäre als das Ende als ewige Pearl Jam-Vorgängerband, einer traurigen Randnotiz des Grunge. "Wanna show you something like the joy inside my heart / Seems I've been living in the temple of the dog." ("Man Of Golden Words")
Von "On Earth As It Is: The Complete Works" führt der Weg unweigerlich zu dem von Chris Cornell gegründeten Gedenk-Projekt "Temple Of The Dog", Alice In Chains' "Dirt" und letztendlich Pearl Jams Meilenstein "Ten". "Andrews Tod war das Ende der Unschuld von Seattle", erinnerte sich der Soundgarden-Sänger Jahre später. "Viele Leute glauben, es war später, als Kurt Cobain sich erschossen hat. Nein, das war der Verlust der Unschuld." If I would, could you?
2 Kommentare mit 4 Antworten
Ärgerlicherweise muss ich wohl die beiden Absätze über "Holy Roler" und "This Is Shangrila" beim Bearbeiten des Textes gelöscht haben. Diese sollten den Unterschied zum Grunge in der Musik und den Texten von MLB verdeutlichen. Hmpf.
Schreib sie doch einfach nochmal und ergänze, entweder hier in den Kommentaren oder editiere nochmal deinen Text.
Ich würde mich freuen, da ich die Band erst kürzlich für mich entdeckt habe und jegliche Interpretationen der Texte und Musik mit Spannung lese.
Schreib sie doch einfach nochmal und ergänze, entweder hier in den Kommentaren oder editiere nochmal deinen Text.
Ich würde mich freuen, da ich die Band erst kürzlich für mich entdeckt habe und jegliche Interpretationen der Texte und Musik mit Spannung lese.
Ich schaue, dass ich es demnächst nachreiche.
Top Rezi, Brudi. Lange nicht gehoert. Konnte auch nie mit allem warm werden, aber 'Chloe Dancer/Crown of Thorns' ist halt etwas fuer die Ionenbuecher.
Essentiell auch: die 'Deep Six'-Compilation (die nervigen Melvins kann man ja skippen) und der oben schon erwaehnte 'Singles'-Soundtrack. Das fantastische 'Chloe Dancer/Crown of Thorns' sollte einen da fuer MLB anfixen, ausserdem gibt es noch 'State of Love and Trust', das mindestens in die Top 20 von Pearl Jam gehoert, schoene Solostuecke von Westerberg und 'Nearly Lost You', das einen fuer die Screaming Trees anfixen MUSS.
Haette damals sehr gerne Celebrity Deathmatch gesehen: Jack Endino & Steve Albini vs. GGGarth & Terry Date.
Schöne CD-Paarung.
Der "Singles"-Soundtrack war klasse. Habe mir beim Schreiben dieses Textes überlegt, ob er nicht fast in die Meilensteine gehört. Mit dem Film konnte ich hingegeben nie viel anfangen.