laut.de-Kritik
Ein zeitloser Klassiker.
Review von Giuliano BenassiAls 2003 "The House Carpenter's Daughter" auf den Markt kam, schien es, als würde sich Natalie Merchant vom Musikbusiness zurückziehen. Letztendlich war es auch so: Die Abstände der Einträge auf ihrer Webseite wurden immer länger, außer Best Ofs war nichts mehr von ihr zu hören. Ihre im selben Jahr geborene Tochter hatte offenbar Vorrang.
Um so größer die Überraschung, als die ehemalige Sängerin von 10.000 Maniacs Ende 2009 ein neues Album ankündigte. Dabei sollte es sich nicht, wie so oft üblich, um eine Rückkehr zu den Wurzeln handeln, sondern um ihr bislang ambitioniertestes Werk, eine Sammlung an 30 Liedern, die sie mit 130 Musikern aufgenommen hatte. Ein Mammutprojekt, das sie sieben Jahre beschäftigte.
Und einen einfach zu erklärenden Ursprung hatte: Um ihre Tochter zum Einschlafen zu bewegen, hatte sie begonnen, Kindergedichte zu vertonen. Bei einer belesenen Frau wie Merchant handelte es sich natürlich nicht um "Alice im Wunderland", die Sesamstraße oder Geschichten von Dr. Seuss, sondern um mehr oder weniger obskure Texte aus dem angelsächsischen Raum.
Konsequent, denn einen Sinn für eigenwillige Themen hatte sie ja schon immer. So erfahren wir vom bösen Pfeffermann ("Peppery Man"), von einem Mädchen aus der Bronx, die sich in den Sohn des Hausmeisters verliebt ("The Janitor's Boy"), von einem Riesen im Rentenalter, der seine Schandtaten bereut ("The Sleepy Giant"), von einer Welt, in der alles umgekehrt funktioniert ("Topsy-Turvey World"), von Bleezers verrückten Eissorten ("Bleezer's Ice-Cream") und von weiteren wundersamen Begebenheiten.
So gut und unterhaltsam die Texte auch sind – die Begleitung ist es noch viel mehr. Die Grundstruktur bleibt folkig-traditionell und erinnert in dieser Hinsicht an "The House Carpenter's Daughter", doch die Stimmung ändert sich mit jedem Stück, ob durch Cajun, Bluegrass, Klezmer, Reggae, Blues, Dixie oder allerlei ethnische Einflüsse, darunter chinesische (gut zu hören in "The King Of Chinas Daughter").
Merchants vibrierende Stimme zeigt sich anpassungsfähiger als jemals zuvor und erreicht auf dem Album eine noch nie dagewesene Tiefe. Mit viel Gefühl hat sie sich die passenden Musiker zu jedem Stück ausgesucht, ob die grollenden Stimmen der Fairfield Four für "Peppery Man", Wynton Marsalis, Medeski, Martin & Wood, die Memphis Boys, die Klezmatics oder die Memphis Boys, die schon auf Elvis' "In The Ghetto" sangen.
Lediglich die Orchestereinlagen der New Yorker Philharmoniker sind stellenweise zu dick aufgetragen. Doch das überhört man gerne, denn "Leave Your Sleep" ist eines jeder seltenen Alben, das die Auszeichnung "zeitlos" verdient hat. Ob vor 20 Jahren, jetzt oder 2030 – die Platte wird sich immer gut anhören. Schlechtes hat Natalie Merchant noch nie geboten, auch wenn ihren ersten Soloplatten deutlich anzuhören ist, dass sie aus den 90ern stammen. Nun ist es ihr gelungen, die Grenzen der Zeit zu überschreiten.
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