laut.de-Kritik

Ostereiersuche der Superlative.

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Die Veröffentlichung der "Archives" hat sich im Laufe der Jahre zu einem Running Gag entwickelt, der an den von "Chinese Democracy" erinnert: Oft angekündigt, ebenso oft verschoben, immer wieder häppchenweise zu haben, Appetit auf mehr machend. Doch während bei Guns N'Roses die Ursache leicht festzumachen war, nämlich am durchgeknallten Sänger, war es bei Neil Young schwieriger. Schließlich sollte es sich um Material handeln, das seit Jahrzehnten im Archiv schlummerte.

Mangelnde Umsetzungsmöglichkeiten bedingten die Verzögerungen; Young ist bekanntlich ein Technikfreak, der im Studio auf abgewetzten Gitarren in wenigen Tagen ganze Alben aufnimmt, bei der Postproduktion aber höchste Maßstäbe ansetzt. Vinyl, SACD, DVD - alles nicht gut genug. Mit Blue Ray hat er nun endlich ein Format gefunden, das seinen Ansprüchen genügt.

Wer den antiken Young in seiner vollen Pracht genießen will, braucht neben Blue Ray-Player auch eine hochwertige Surround-Anlage. In diesem Fall dürfte der Listenpreis von weit über 200 EUR für "Archives Vol. 1 (1962-1973)" nicht stören. Für Normalsterbliche gibt es auch eine Ausgabe auf DVD, für arme Schlucker eine abgespeckte CD-Version. Bei der das üppige 236 Seiten dicke Begleitbuch fehlt.

Der Clou an der Blue Ray-Version: Wer seinen Player ans Internet anschließt, kommt im Laufe der Jahre in den Genuss neuen Materials. Dazu dient ein interaktiver Lebenslauf ("Timeline"), in den sich die Downloads automatisch einbinden. Dafür muss man eine der erworbenen Scheiben einlegen. Das Material wird dann auf der Festplatte des Geräts gespeichert. Wenn das Gerät "abkackt" (O-Ton offizielle Webseite) kauft man sich ein neues, legt eine Scheibe ein und lädt sich den Kram noch mal runter. So einfach soll das gehen.

Doch auch ohne Downloads gibt es genug zu hören und zu sehen. Elf Blue Ray Discs bzw. zehn DVDs mit Audio- und Zusatzmaterial durchzuackern, ist eine Mammutaufgabe, die Wochen in Anspruch nimmt. Hier ist Blue Ray im Vorteil, denn damit ist es möglich, gleichzeitig die Musik zu hören und im Zusatzmaterial zu stöbern. Bei den DVDs geht das nicht, was den Genuss deutlich schmälert.

Denn "Bestandteil der 'Vision' ist es, Interaktion und Entdeckungsgeist zu fördern. Versteckte Tracks und 'Ostereier' zu finden macht Spaß und birgt Überraschungen für all jene, die sich darauf einlassen und herumspielen. Keine Angst: Es ist nicht allzu schwierig", erklärt dazu die extra eingerichtete Seite www.neilyoungarchives.com.

In der Praxis klickt man im Hauptmenü auf "Play All" und startet die Musik. Damit es nicht langweilig wird, ist jeder Track mit einem Video untermalt, das Plattenspieler, Kassettendeck oder Aufnahmegerät und die Original-Tonquelle beim Abspielen zeigt. Bei der Studioversion von "Heart Of Gold" auf Disc 8 zum Beispiel eine Goldplatte. Das Gerät ist meist mit Fotos und Schriften garniert, die zum Stück passen. Zudem steht es mal auf dem Boden, mal auf einem Tisch oder in einer Scheune. Die Abwechslung lädt zum Zuschauen ein.

Jede Scheibe enthält einen virtuellen Aktenschrank, der sich geräuschvoll öffnet. Zu jedem Stück gibt es eine Akte, die Fotos, den Text als Originaldokument, gelegentlich auch Videos und weiteres Material enthält. Hinzu kommt die schon erwähnte Timeline, die noch mehr Boni enthält. Schwer zu überblicken, aber tatsächlich nett. Und wirkungsvoll gestaltet.

Bei all den Spielereien gerät die Musik nicht in den Hintergrund. Die Klangqualität genügt erwartungsgemäß höchsten Ansprüchen, von Youngs ersten Schritten mit den Squires 1963 über Berge an Demos, Konzerten, alternativen und bekannten Studioaufnahmen mit Buffalo Springfield, CSNY und solo. Wer sucht, der findet. Von den zahlreichen Perlen seien wenige herausgepickt: Eine ganz frühe Version von "Sugar Mountain" mit einem ungewohnt schüchternen Young am Mikrophon, eine Frühfassung von "I Am A Child", das zu diesem Zeitpunkt noch "Silver Child" hieß (beide Disc 0) und eine Liveversion von "Heart Of Gold", als das Stück noch unbekannt war (Disc 8).

Drei der Scheiben sind schon bekannt ("Live At The Fillmore East", "Live At Massey Hall" und "Live At The Riverboat"), ein weiteres Konzert ("Live At Canterbury House", 1968) ist auf der zusätzlichen Scheibe bei der Blue Ray-Ausgabe enthalten. Der CD-Version fehlt dagegen Youngs Kinofilm "Journey Through The Past", der wenige sehenswerte Konzertauschnitte mit handlungsarmen Filmszenen vermischt. Das sollte 1973 wohl surreal sein, wirkt im neuen Jahrtausend aber eher wirr, um nicht zu sagen langweilig.

Auch so bleiben Dutzende Tracks, die entweder gänzlich unbekannt sind oder darauf warten, wieder entdeckt zu werden. Da bleibt uns nur eines: Ehrwürdig den Hut zu ziehen vor einem Künstler, der uns nach so vielen Jahren immer noch zu begeistern vermag. Mit den Archives hat er sich nicht nur ein verdientes Denkmal, sondern auch Maßstäbe über die Aufbereitung der Vergangenheit gesetzt.

Die einzigen, die bislang so etwas Ähnliches gewagt haben, waren die Beatles mit ihren "Anthologies". Ein Jahrzehnt später lässt sich sagen: Das Warten auf die neueste Technologie hat sich gelohnt.

Trackliste

Disc 0: Early Years (1963-1965)

Disc 1: Early Years (1966-1968)

Disc 2: Topanga 1 (1968-1969)

Disc 3: Live At The Riverboat (1969)

Disc 4: Topanga 2 (1969-1970)

Disc 5: Live At The Fillmore East (1970)

Disc 6: Topanga 3 (1970)

Disc 7: Live At Massey Hall (1971)

Disc 8: North Country (1971-1972)

Disc 9: Journey Through The Past (1972)

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