Live Undead! Slayer unterbrechen ihren Ruhestand für die ersten Europa-Gigs seit sechs Jahren. Live-Review.
London (gbi) - Irgendwann, mitten im Set, fällt Tom Araya etwas auf. Etwas stimmt nicht, gestern, am Sonntagabend im Londoner Finsbury Park: Viele im Publikum bewegen sich zu wenig, findet der Slayer-Frontmann. Das sei schon in Ordnung, meint er mit breitem Grinsen, es könne ja überwältigend sein, wenn einem jemand ununterbrochen eine Abreibung verpasse. So wie das seine Band da gerade macht. Doch, beteuert er: "We're doing this with love."
Sommer, Liebe, Totschlag. Ob der makaberen Pointe muss der ergraute Mähnenträger laut auflachen. Aber Slayer waren noch nie für guten Geschmack oder gar Subtilität bekannt. Was auffällt: Araya war derjenige, der Slayer 2019 zum vermeintlichen Rücktritt zwang. Der Bassist und Schreihals hatte keine Energie mehr für das Touren, sehnte sich nach einem ruhigen Familienleben. Doch in London ist von Müdigkeit keine Spur: Der 64-Jährige spuckt seine Botschaften über Hass, Krieg, Satan und Serienmörder mit sichtlicher Freude ins Publikum. Auch die Performance stimmt, selbst seine ikonischen hohen Schreie sitzen.
Fuckin' Slayer are back!
Nein, es ist kein Traum, die mighty fuckin' SLAAAAYÖÖÖR sind tatsächlich wiederauferstanden und zocken sich da wuchtig und tight wie ein altes Schlachtschiff mit integrierter Atomuhr durch ihr Set. Ihren Ruhestand hatten die kalifornischen Thrash-Metal-Giganten erstmals 2024 für eine Handvoll Festival-Gigs unterbrochen. Dieses Jahr standen gleich drei UK-Auftritte an, die sich aufgrund des mit immensem Staraufgebot begangenen Abschiedskonzerts von Black Sabbath anboten: Erst spielten Slayer in Cardiff, danach gaben sie in Birmingham eine von zahllosen Vorbands für die noch grösseren Sabbath, die dort ihr wirklich alleralleraller- lufthol -allerletztes Konzert absolvierten.
Und nun zum Finale also der Gig im Norden Londons. Der rund 45.000 Besuchende fassende Finsbury Park ist nicht ausverkauft, aber gut gefüllt mit Metalheads jeden Alters und Styles. Wenn Slayer rufen, kommen die Gothic-Kids genauso wie die Jeansjacken-Oldies. Natürlich wird im Gedränge hie und da auch Dschörman gesprochen, denn die weite Reise lohnt sich ja. Bei den Reunion-Gigs werden die Gründungsmitglieder Tom Araya und Gitarrist Kerry King wie gehabt durch Paul Bostaph an den Drums und Gary Holt (Exodus) an der zweiten Gitarre unterstützt.
Und Slayer haben nix verlernt, wirken frisch wie eine Sommerbrise aus der Hölle: Nach einem kurzen Video-Recap zur Bandkarriere steigen sie mit "South Of Heaven" erst mal spooky in den Abend ein. Doch bald schon startet der gewohnte rasant-aggressive Thrash-Galopp, den eben niemand so gut beherrscht wie Slayer: "Repentless", "War Ensemble", "Chemical Warfare", "Jihad": Die Band rifft, schreit und bollert sich durch ihr Quasi-Best-of-Set, das sich in den vergtangenen Jahren bewährt hat. Wer ein paar der besten Metal-Songs aller Zeiten im Angebot hat, muss die ja auch liefern. Fast alle Alben finden Beachtung, wenngleich die meisten nur mit einem einzigen Song.
Pokerface und Pyro-Spektakel
Kerry King, auch schon 61 Jahre alt, headbangt durch, flitzt mit seinen Fingern über die Gitarrensaiten und schreit seine liebsten Lyrics lauthals mit. Alles wie gehabt also. Sollte er gerührt gewesen sein, wieder vor grösserem Publikum zu spielen als zuletzt mit seiner Soloband, man hat es ihm nicht angemerkt: London, 19 Grad, Wind: Das Pokerface hält. Gary Holt gibt derweil sein Bestes, um den zu früh verstorbenen Jeff Hanneman stolz zu machen, dessen Rolle er ausfüllt. Und Paul Bostaph wird nie einen Dave Lombardo ersetzen, verdrescht sein Drumkit aber gewohnt rasant, wuchtig und schnörkellos.
Woran sich Fans erst noch gewöhnen müssen, ist das verdammte Pyro-Spektakel auf der Bühne. War einst Synchron-Headbangen noch das höchste aller Bühnenshow-Gefühle, feuert die Pyrocrew heute aus allen Rohren. Auch die Begleitvideos zu den einzelnen Songs, die allerlei Horror- und Blasphemieszenarien auf die Großleinwände werfen, dürfen mit gutem Gewissen als spektakulär bezeichnet werden. Teils erweckt das ganze Brimborium fast den Eindruck, als müsse da etwas kompensiert werden. Dabei hätte auch die Musik gereicht.
Überraschungen in der Setlist
Die Setlist hält sogar einige Überraschungen bereit: Ihr am Vortag uraufgeführtes Black-Sabbath-Cover "Wicked World" spielen Slayer erneut, was die ganze Doublebass- und Riffgeschnetzel-Orgie urplötzlich mit swingendem Groove und einem Araya, der richtig singen muss, unterbricht. Nach der Hälfte des Songs schieben Slayer aber "Postmortem", einen dieser teuflisch fiesen Brecher ihres Meilensteinalbums "Reign In Blood", dazwischen – nur um danach den Sabbath-Faden wieder aufzunehmen. Die alten Herren halten es fresh. Dass sie mit "213" von ihrem 1995er-Album "Divine Intervention" auch noch einen Deep Cut aus dem eigenen Katalog entstauben, ist für langjährige Fans ein weiteres Schmankerl obendrauf.
Der Geist des Sabbath-Abschiedskonzerts vom Vorabend weht ohnehin den ganzen Tag durch den Finsbury Park. Nicht wenige Besucher:innen tragen ihr Fanshirt von der Sabbath-Dernière in Birmingham zur Schau – selten so viele nigelnagelneue Shirts an einem Festival gesehen. Wobei, pardon, eigentlich ist es ja gar kein Festival, sondern nur ein Slayer-Gig mit gleich fünf (!) Vorbands: Neckbreakker (mit jugendlichem Elan), Hatebreed (mit etwas Regenpech), Mastodon (mit neuem Live-Mitglied), Anthrax (mit routiniertem Thrash) und Amon Amarth (mit der grössten Publikumsbeteiligung des Vorprogramms) – kein Wunder, Mister Araya, ging einigen Fans bei Slayer die Puste aus.
Und jetzt?
Die vorderen Zehntausend vor der Bühne bieten während des ganzen, 20 Songs umspannenden Slayer-Sets ordentlich Gemoshe und Gegröle. Wer hüftsteif ist oder schon immer den Wunsch hatte, zu "Mandatory Suicide" eine pappige Pizza im Stehen zu mampfen (ja, gesichtet), stellt sich weiter hinten rein. Dort fällt der Applaus brav, aber nicht überschwänglich aus. Als die Totschläger sich mit dem monumentalen Doppelschlag "Raining Blood"/"Angel Of Death" verabschieden, kann man die Tragweite dieses Moments gar nicht richtig einordnen – aber wer kann beim Headbangen schon klar denken? War es das jetzt definitiv, der letzte Akt?
Slayer haben für dieses Jahr noch drei weitere Konzerte in Nordamerika im Kalender stehen, und danach? Bleiben sie semi-aktiv? Kommen sie wieder einmal nach Europa? Das wissen die Götter. Nach dem Ende des Sets scheint Araya den Beifall jedenfalls richtiggehend aufzusaugen, bedankt sich ausgiebig beim Publikum. Seine Abschiedsworte wählt er dennoch bewusst ominös: "You guys have a great life!"".
Für uns in London: Gil Bieler.
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