Dem wortreichen Abschied folgt der erwartete Diss gegen Mois. Tatsächlich demontiert Sun Diego mit "Stan In The Mirror" vor allem sich selbst.

Osnabrück (dani) - Merkt euch das Datum, wir erleben einen historischen Tag: Nach mehreren Dekaden ausgiebigen Deutschrap-Konsums haben wir heute, am 30. August 2024, des Genres absoluten Nullpunkt erreicht. Auf einem Niveau, tief, tief unten im Marianengraben, gründelt Sun Diego 25 Minuten lang im Bodensatz. Eigentlich hatte er sich gerade erst recht wortreich aus dem Hip Hop-Zirkus verabschiedet. Gestern jedoch war sein so ausuferndes wie versöhnliches Statement bereits wieder aus seinem Feed verschwunden, und das unheilvolle Zwinkern in seiner Instastory ließ nichts Gutes erwarten. Ich habe Schlimmstes befürchtet. Ich war nicht im mindesten vorbereitet, auf "Stan In The Mirror":

Das, Gemeinde, war locker das Ekelhafteste, das ich seit sehr langer Zeit gehört habe. Das Ausmaß der hier offenbarten Menschenverachtung macht mich wirklich sprachlos, die vollkommene Absenz einer halbwegs gesunden menschlichen Regung erschreckt mich bis ins Mark, von Empathie will ich gar nicht erst anfangen. Um erst einmal wieder zu Sinnen zu kommen, halten wir uns kurz an Formalitäten fest: Ja, das ist, niemanden dürfte es überraschen, ein Disstrack gegen Mois.

Sun Diego bestreitet die knappe halbe Stunde mit dem einen, nicht sehr eleganten Flow, den er zweifellos beherrscht. Mit dem reißt er zwar niemanden vom Hocker, es tut, rein technisch betrachtet, aber auch nicht weiter weh. Dafür, dass es trotzdem nicht allzu eintönig gerät, sorgen mehrere Beatswitches. Die Produktion fährt alles an Drama auf, das zwangsläufig nötig scheint, um ein Schlachtfest an einem Widersacher zu untermalen.

Chöre sind Pflicht

Chöre sind Pflicht, da fragt auch niemand, wo die in dem menschenleeren U-Bahn-Wagen, in dem Sun Diego im zweiten Part herumsteht, urplötzlich herkommen sollen. Seinem bewährten Videografen Daniel Zlotin hatte Sun Diego in seiner Abschiedsrede ja ausführlich gedankt. Der verantwortet entsprechend auch hier die Bewegtbilder. Als Überleitungen flicken Sun Diego und wer immer ihm bei "Stan In The Mirror" zur Hand gegangen ist, Sprachnachrichten von Mois an seine Mutter ein, außerdem ein Telefonat, das Sun Diego selbst mit Mois' Ex-Frau Anys führte.

Der Rächer der Witwen und Waisen

So weit zum Rahmen, in dem sich die Tragödie abspielt. Es hilft aber ja nix: Man muss sich wohl betrachten, was Sun Diego da erzählt. "#paybackforanys" nennt er den ersten Teil der Litanei, in dem er quasi eins zu eins noch einmal Anys' Beschreibungen ihrer traumatisierenden Beziehung mit Mois wiedergibt. Wer ihr Statement gelesen hatte, erfährt rein gar nichts Neues. Hier frage ich mich noch, was Sun Diego dazu treibt, sich zum Rächer der Witwen und Waisen und zum Fürsprecher für Mois' Ex aufzuspielen. Egal, was für ein ekelhafter Frauenschläger Mois sein mag: Was haben Sun Diego anderer Leute Beziehungsgeschichten zu interessieren?

Den unentwegt in den Äther gepumpten Einmischungen von Mois' Brüdern, die sich offenbar berufen fühlen, die Ehre ihrer Mutter zu verteidigen, stellt Sun Diego, wieder mit Zwinkerzwinker, Sprachnachrichten von Mois an besagte Mutter entgegen, die kein gutes Licht auf selbige werfen. Allerdings lässt der Move, private Nachrichten einer anderen Person an eine dritte zu veröffentlichen, auch den ausgesprochen schlecht dastehen, der sie ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Ohne einen Funken Sympathie für Mois zu hegen: Da schluchzt und keift ein offensichtlich psychisch kranker Mensch einen wirren Cocktail aus Suizidgedanken und Anschuldigungen ins Telefon. Was für eine Sorte Ehrenmann muss einer wohl sein, um DAS einer geifernden Fanmeute vorzuführen?

Ein echter Ehrenmann

Nun, die Frage, zu welcher Sorte Ehrenmann Sun Diego gehört, beantwortet er später noch selbst. In seinem zweiten Part, "Zois D Junkie", lässt er sich zunächst einmal über Mois' geschäftliche Verfehlungen aus. Es geht um Label-Interna, nicht bezahlte Rechnungen, uneingelöste Versprechungen, veruntreute Spendengelder. Auch das wusste ich alles schon, obwohl ich eigentlich dachte, nicht wahnsinnig tief in das sumpfige Kaninchenloch dieses Beefs gekrochen zu sein. Du bist unzuverlässig, untalentiert, broke, du stinkst, du hast ungewaschene Unterhosen, dreckige Fingernägel, du bist gar kein echter Gangster, du Hurensohn. So weit, so "normal" für gegenseitiges Gedisse.

Darüber Herumheulen, dass einer Frau und Kind(er) seines Gegners in so einen Schlagabtausch mit hineinzieht: schön und gut und sehr verständlich. Solches mit Lines gegen des anderen "Nuttenmutter", seinen sehbehinderten Vater und einer Verheißung wie "Du willst mein'n Sohn mit achtzehn ausknocken? Bruder, er wird deine Tochter daten" zu kontern, lässt nicht nur ahnen, wie im Grunde scheißegal Sun Diego nicht nur die Privatsphäre seines Kontrahenten ist, sondern auch die seiner angeblich Liebsten. Er zieht ja selbst Familienmitglieder mit hinein, sogar seine eigenen, und degradiert sie zur Waffe in einem kindischen Hickhack. Ehrenvoll? Ja, am Arsch.

Der Gipfel der Romantik

Das Ausmaß des Desasters habe ich, als mir das sauer aufstieß, aber noch gar nicht kommen sehen. Neuer Beat, mehr Drama, neues Thema: "Geständnis" nennt Sun Diego den dritten Teil seiner Litanei, und guck: Plötzlich steht da Mois Verflossene Anys leibhaftig im Video, und Sun Diego gesteht, dass sie DOCH seine neue Herzensdame ist. Wie Mois (und übrigens auch Sun Diegos Ex-Frau) behauptet, Sunny selbst bisher aber vehement abgestritten hatte.

"Ich gestehe nur aus Angst vor Gott vor der Kamera
Ich hab' für sie gelogen, die ganze Welt hat gezweifelt
Doch sie hat jetzt den Mut gefasst und ihren Eltern gebeichtet
Sie war von Angst zerfressen, sie hat gezittert seit Tag eins
Niemals die süße Lüge, immer die bittere Wahrheit
Wir durften nie zusammen sein, Muslima und Jude
Aber ich hab' für diese Liebe geblutet
Anys, ich hab' für dich mein Leben riskiert
Auch wenn die ganze Welt dagegen ist, ich stehe zu dir.
"

Aaaawww. Ist das nicht der Gipfel der Romantik? Das erklärt natürlich Sun Diegos komischen Beschützerreflex im ersten Part: Er verteidigt da die Frau, die jetzt die seine ist. Was ein Ehrenmann halt so macht, ne? Ich versteh' zwar nicht, was Leute dazu treibt, ihre Gefühlsduseleien vor Publikum abzuziehen, aber ... wenn sie meinen. Viel Glück euch beiden, Klappe, Schluss, aus. Happy End.

Leider kein Happy-End

Ja, schön wärs gewesen. "Stan In The Mirror" geht aber noch weiter: mit einem Part, wie er belastender kaum hätte ausfallen können: Genüsslich und explizit reibt Sun Diego Mois da unter die Nase, was er (und nicht mehr Mois) jetzt alles mit dessen Verflossenen anstellt und wie hemmungslos er, Sun Diego, und Anys es miteinander treiben. Wie gesagt: Ich versteh' schon nicht, wie Leute gestrickt sein müssen, um überhaupt mit ihren Bettgeschichten zu protzen. Wie man seine "Liebe", für die man angeblich "geblutet" hat, dergestalt benutzen kann, nur um einem anderen eins auszuwischen, liegt auch weit jenseits meiner Vorstellungskraft. In diesem Fall hat die Sache ja aber noch eine weitere Dimension:

Dass Anys zu diesem Trauerspiel ihr Einverständnis gegeben hat, tut überhaupt nichts zur Sache. Wie ihre eigenen Einlassungen offenbaren, hat sie schlimmste Erlebnisse hinter sich. Sie hat körperliche wie psychische Gewalt und sexuellen Missbrauch erfahren, die Frau ist traumatisiert. Müsste der Mensch, der sie angeblich liebt, sich nicht schützend vor sie stellen? Sie notfalls auch vor sich selbst retten? Ihr Neuer denkt offenbar nicht dran. Um einem psychisch kranken Mann, der ihn verärgert hat, eine reinzuwürgen, stößt er seine Frau vollkommen empathiebefreit ein weiteres Mal ins grelle Scheinwerferlicht, um sie dort nackt der gaffenden Horde zum Fraß vorzuwerfen.

Es gibt keinen Gott

Dass Sun Diego nicht instant der flüssige Schleimschlag trifft, sobald er die Worte "Liebe" oder "Ehre" in den Mund nimmt, betrachte ich als validen Beweis für die Nichtexistenz eines barmherzigen Gottes. Die Tatsache, dass in Sun Diegos Umfeld offenbar niemand auf den Gedanken kam, dass "Stan In The Mirror" vielleicht eine ganz, ganz schlechte Idee sein könnte, belegt obendrein, dass im Musikbusiness wirklich keinerlei Anstand überlebt hat.

Dass der Track danach in minutenlangen Mutterbeleidigungen ausplätschert, die sich in erster Linie aus Bodyshaming und Inzenstfantasien speisen, kann eigentlich niemanden mehr berühren. Wer noch einen Funken von der allerorts beschworenen Ehre in sich trug oder wenigstens ein bisschen Mitgefühl, ist an dieser Stelle längst innerlich tot, und es ist gut so. Man hätte sonst noch mehr weinen müssen, bei der Vorstellung, wie eine frisch verliebte Frau sich fühlt, wenn ihr neuer Traumprinz ihr erst sein Herz zu Füßen legt, sie dann vor aller Augen ordentlich durchnimmt, und danach zusammen mit seinen Kumpels über die mollige Mutter des Gegners drüberrutscht. So hat man sich das doch in seinen blumigen Träumen vorgestellt. Oder nicht?

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laut.de-Porträt Sun Diego

Sun Diego gehört zu den Rappern aus dem 2000er-RBA-Kosmos, die ihren Rap-Stil bis heute ernsthaft von der Battlerap-Szene haben beeinflussen lassen.

laut.de-Porträt SpongeBozz

"HÄHÄÄ!" Ja, bitte? "Ich fick' Karrieren, ficke jeden, auch wenn ich mit dem Rücken zum Business stehe." Mit einem ziemlich breiten Rücken. In Gelb.

12 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 18 Stunden

    Verzeihung, meintest du mit 'demoniert' demontiert oder dämonisiert?

  • Vor 18 Stunden

    Vom schmierigen Schmalzbarden-Sidekick Kollegahs, über den unmusikalischen Reißbrettformel-Battlerapper im Schwammkostüm, hin zum unmusikalischen Reißbrettformel-Battlerapper mit Judengimmick, und jetzt das. Der Typ hat, auf seine ganz eigene, spezielle Weise, schon eine gewissermaßen beachtliche Entwicklung durch :D

  • Vor 17 Stunden

    Ich war selbst nicht so umfangreich informiert wie alle anderen, der erste Teil war dementsprechend noch gut, der zweite halt das übliche Gedisse, doch der dritte, wo Sun Diego mit seiner Ex-Frau bricht und seinem Sohn sagt, dass er ihn noch liebe und er cool sei, nur um in den nächsten fünf Minuten zu elaborieren, was er mit Mois' Ex und seiner Neuen macht... digga WTF? Es ist noch nicht mal rebellisch oder großartig beleidigend (wenn man von Mois absieht), sondern einfach nur unnötig und eklig. Ich meine, ein oder zwei Lines wären schon schlimm genug gewesen, aber er macht einfach einen ganzen Song draus.

    • Vor 17 Stunden

      Nachtrag: Ich meine, der Sinn eines Diss-Tracks ist es doch, besser als sein Gegner dazustehen, oder? Und in diesem Fall ging es nicht darum, wer der härtere Hund und rücksichtslosere Racker ist, die ganzen religiösen Bezüge und das Ehrengetue implizieren ja, dass es auch um moralische Überlegenheit geht. Aber da schießt sich Sun Diego halt komplett ins Bein mit.

    • Vor 16 Stunden

      Nein der Sinn dieses letzten Parts war es Mois maximal zu demütigen und das ist absolut gelungen.

    • Vor 16 Stunden

      Wenn du in ein paar Jahren älter als 13 bist, wird dieser Part auch auf dich maximal peinlich wirken.

  • Vor 16 Minuten

    Kommt mal klar, Princess Treatment und swag. Dieser Obdachlose ist nicht der 369 würdig. Frisst Pilze und kriegt es trotzdem nicht gebacken. Die Mutter hat gut kassiert, aber wenn man sich die Sprachnachrichten anhört...die hat sich mit ihrem Ego selbst und alle anderen zerstört. Sunny kennt keine Gnade auf musikalischer Ebene. Alles Spastis außer Bonny und Clyde. Und sein Sohn und seine Ex.

    Hat für mich kein Replay Value, hab aber auch keine Probleme seine Zeilen zu verstehen.

  • Vor 58 Sekunden

    Junge, wenn du mehr als einen Satz brauchst um deinen Kollegen zu Grabe zu tragen, dann war er dir halt einfach nie egal genug und das ist auch schon das ganze verdammte Problem mit dem Format.