Der Labelmanager und frühere ersguterjunge-Rapper kritisiert den Abgesang auf das Genre. Sein Fazit: "Hip-Hop ist lebendiger denn je!"
Berlin (dol) - Der Kulturpessimismus geht mal wieder um. Anlässlich des diesjährigen Splash! fühlte sich MC Rene dazu berufen, mit der Entwicklung der Subkultur abzurechnen. "Früher war Hip-Hop ein Ort für Haltung, Skills, Geschichten. Heute ist Hip-Hop oft nur noch ein Ort für Content, Clips, Momente - schneller verpufft, als die Insta-Story laden kann", beanstandete er in einem zum Essay hochgejazzten Instagram-Beitrag. "Früher wollten Rapper die Welt verändern. Heute wollen sie viral gehen." In einem zweiten Post warf er dann noch Veranstaltern und Publikum vor, "Komplizen in diesem Theater" zu sein.
D-Bo sieht das anders. In einer ersten Reaktion nannte er MC Renes Ausführungen "nur unbestätigte Vorurteile", mit denen dieser "einen Keil in die Community" treibe. Das Splash!-Festival sei heute "extrem friedlich, harmonisch" sowie "weiblicher und migrantischer denn je". Vergleichswerte dürfte der Berliner zuhauf haben. Um die Jahrtausendwende hatte er zu den Gründern von I Luv Money Records gehört, bevor er mit ersguterjunge an der Seite von Bushido kommerzielle Höhenflüge erlebte. Mittlerweile erlebt er das Musikgeschäft als Manager und Verleger hauptsächlich von der anderen Seite.
D-Bo über die Debatte zum Werteverfall in der Hip-Hop-Szene:
"MC Rene kritisiert das Splash! und diskreditiert - einfach mal ganz generell - in einem Rundumschlag die komplette Hip-Hop-Szene. Das sei halt alles nicht mehr so wie früher. Es laufe so vieles falsch. Es ginge ums Geld. Hip-Hop-Festivals seien nur noch kulturelle Beerdigungen. Das sind legitime Meinungen, die einen Nerv treffen, denn die Szene diskutiert - leidenschaftlich!
Rene stellt fest: Er habe recht! Einladungen zu Diskussionsrunden werde er dennoch nicht wahrnehmen, weil er nicht auf all jene eingehen wolle, die ihn so lange ignoriert hätten; schon gar nicht in einem Szenario, in dem diese Leute das Setting bestimmen würden. Zumindest nicht mehr, nachdem ER in einem kontrollierten Setting beim Bayerischen Rundfunk nochmal SEINE Meinung loswerden konnte.
Irgendwie schade, denn die grandiose Reichweite - sowohl auf Social Media als auch beim Bayerischen Rundfunk - wurde nur genutzt, um zu kritisieren. Aber irgendwie wurde etwas enorm Wichtiges vergessen: Mal abgesehen von seinem Kumpel Figub Brazlevic, den ich selbst für einen absoluten Diamanten und Fixstern jedweder Form der Hip-Hop-Elemente halte, wurde einfach niemand empowered, die oder der es besser macht als all jene, die es laut Rene zu kritisieren gilt.
"Der Pool an Talenten ist unüberschaubar groß geworden"
Da sind nun endlich mal alle Augen auf Hip-Hop gerichtet und all diese Aufmerksamkeit führt zu nicht mehr als dem Fazit: Ich, MC Rene, habe alles gesagt. Wer versteht, versteht, wer nicht, der nicht! Was wurde mit der Diskussion nun gewonnen? Wie neugierig auf Künstlerin XYZ hätte man das Land mit der Reichweite der spannenden Diskussion, die MC Rene ausgelöst hat, machen können? Wie charmant hätte man weibliche, migrantische oder generell oft viel zu selten gehörte Stimmen mit ihren subjektiven Perspektiven zu Wort kommen lassen können? Wie eindrücklich hätte man sich an der Hip-Hop-Kultur bereichernden Brands ein schlechtes Gewissen machen und sie zu mehr finanziellen oder Reichweiten fördernden Support bewegen können?
Das Volumen an Menschen, die sich mit Elementen des Hip-Hops künstlerisch ausdrücken, ist über die Jahre so irre angewachsen. Klar ist alleine deswegen subjektiv gesehen inzwischen auch mehr Quatsch dabei. Ich rede von Künstler*innen, die Hip-Hop vermeintlich schlecht aussehen lassen. Projekte wie - sehr alte Hip-Hop-Heads wissen Bescheid - die Fantastischen Vier, Der Wolf oder Tic Tac Toe vor 30 Jahren, die die Real-Keeper-Fraktion zur ideologischen Weißglut brachten, gibt es natürlich heute auch immer mal wieder. Allerdings gibt es auch nahezu unerschöpflich viele grandiose Hip-Hop-Perlen in diesem Land. Der Pool an Talenten ist unüberschaubar groß geworden. Ich spreche aus eigener Erfahrung.
"Sie streben nicht in die etablierten Bubbles von uns alten Hasen"
Ich sitze als Manager, Verleger und Vertriebler jeden Tag in meinem Büro, höre mutig-experimentelle bis hin zu leidenschaftlich-perfektionistische Demos und sehe unzählige junge, aber auch etablierte Kunstschaffende hoffnungsvoll ihren allerletzten Euro in ihren Traum investieren. Ich sehe, wie sie sich gegenseitig supporten, gemachte Erfahrungen und zuverlässige Kontakte tauschen und versuchen, das ihnen bestmögliche Ergebnis an Kunst zu kreieren. Gleichzeitig sehe ich parallel auch das Banale und Beliebige, was Rene kritisiert, nur in einer verhältnismäßig viel geringeren Anzahl als behauptet.
Ich sehe Veranstalter monatelang darum kämpfen, in kleinsten Jugendzentren kulturelle Basisarbeit zu realisieren - überall im Land gegen jeden Widerstand. Diese Menschen machen für zwei Dutzend glücklicher Hip-Hop-Kids viele hundert bis tausend Euro Minus - aus ehrlicher Liebe zum Hip-Hop. Ich sehe Menschen hinter den Kunstschaffenden, die jahrelang Praktika abreißen, weil auch sie aus Leidenschaft zum Hip-Hop erdulden, dass sie nur über diesen Weg ein respektierter Teil einer Kultur werden können, die ihnen wichtig ist.
Ich kenne Restaurantbesitzer, die in ihren Läden Release-Parties, Ausstellungen, Team-Events, Videodrehs und Live-Podcasts stattfinden lassen. Ich kenne Fotografen, die 50.000 Kilometer durch das Land fahren, um kostenlos aufstrebende Artists zu porträtieren, mit der Absicht, all jene sichtbar zu machen, die Rene meines Erachtens viel zu leichtfertig ignoriert. Es gibt sie sehr wohl, die vielfältige und außerordentlich talentierte Hip-Hop-Szene. In allen Ecken und Regionen dieses Landes. Alle Geschlechter, alle Altersgruppen, alle Ethnien, alle Kulturen, alle Religionen und alle ökonomischen Schichten sind dabei - als MCs beim Rap, beim Sprühen, Tanzen oder beim DJing. Sie streben nicht in die etablierten Bubbles von uns alten Hasen und fragen, ob wir ihnen die Welt erklären könnten. Die haben einen ganz eigenen Plan und ziehen diesen selbstbewusst durch.
Für ein "gutes und gesundes Zuhause mit anderen Gleichgesinnten"
Das bedeuten eben auch die Werte, die in der Hip-Hop-Declaration of Peace von KRS-One nachzulesen sind. In dieser Liste befinden sich all diese großartigen Pflichten und Prinzipien, die MC Rene einfordert, während er selbst nur einen sehr limitierten Ausschnitt eines wirklich gigantischen Hip-Hop-Horizonts betrachtet, um zu behaupten, all diese Werte gäbe es nicht mehr. Diese Pauschalisierung ärgert mich sehr!
Ich lebe Werte und Prinzipien vor, die ich mir bei Events oder in der Kunst erhoffe und gleichzeitig versuche ich, ständig Neues zu lernen und zu verstehen, was all die Künstler*innen und übrigens auch die großartigen Fans der Hip-Hop-Kultur bewegt, was sie motiviert und was ihnen Sorge bereitet. Ich versuche, all denjenigen, deren Kunst oder Produkte ich lieber konsumieren würde, mit meiner öffentlichen Aufmerksamkeit, all meinen Kontakten und meiner Erfahrung zu helfen und sie zu empowern, anstatt das legitime Engagement derer, die mich nicht begeistern können, schlecht zu reden.
So verstehe ich, unabhängig von jedweder Kultur und Ideologie, ein gutes und gesundes miteinander, welches jeder und jedem von uns hilft, sich gegen all diese Scheiße zu behaupten, die einem die Hoffnung auf die Zukunft trübt. Trotz künstlerischer Unperfektion, trotz mir sich nicht gleich erschließender Absichten, gestehe ich jeder und jedem zu, ein Zuhause mit anderen Gleichgesinnten teilen zu wollen. Wo nicht die Probleme angeprangert, sondern wo Lösungen kultiviert werden. So verstehe ich Kultur und so verstehe ich Hip-Hop. Und Hip-Hop ist aus meiner Sicht lebendiger denn je!"
Text von D-Bo
Für 'laut.de Politics' sammelt Dominik Lippe Gastkommentare von Rappern, Musikern und Vertretern der Branche zur tagesaktuellen Nachrichtenlage oder gesellschaftlichen Themen beständiger Relevanz.
6 Kommentare mit 4 Antworten
ich les das nicht (fyi)
Ent-empowered auch nur.
"Der Kulturpessimismus geht mal wieder um."
Hab noch nicht einmal irgendwo gelesen, "der Kulturoptimismus geht mal wieder um". IHR seid doch die Kulturpessimisten, wenn ihr Comedy schlecht redet!
+++ Breaking News: Thorge (43), Lehrer am Dülmener Ratsgymnasium, Vater von Nevio (4) und Tilda (7), hört nur noch D-Rap, der vor 2005 erschienen ist. +++
Und in seinem Deutschunterricht werden dann die Lyrics von ECHTEN MCs analysiert und nicht von irgendwelchen Pfeifen, die sich Rapper schimpfen.
Der Soundtrack dieser Menschen:
https://youtu.be/rwvsb2Icvsc
Letzte Curse Albung trotzdem dope gewesen.
Ach naja, bei dem was insbesondere in Deutschland gerade populär ist bekomme ich auch zumeist Würgereiz, aber das Genre Hip-Hop an sich ist wohl mittlerweile groß genug dass jeder irgendwas finden kann, sicher auch im Bereich "Haltung, Skills & Geschichten".
Halbe Bibel, ganzer...ihr wisst schon
Reen hätte sich sparen können, seinen Standpunkt vermeintlich argumentativ zu untermauern zu versuchen. Ehrlicher wäre es — und das unterstelle ich mal —, wenn er gesagt hätte, dass es ihm stinkt, dass so viele Rapper da draussen sind, aber nicht genug MCs (so in Anlehnung an den Track von Nas mit den Beastie Boys). Das ist so ähnlich wie mit Autoren, die Bücher am Fließband schreiben und damit gutes Geld verdienen, aber wenig Herzblut drinsteckt, weil es eben auch Broterwerb ist. Und dann gibt es Leute, die schreiben Bücher, weil in ihnen ein Drang danach steckt, etwas zu Papier zu bringen, egal ob es ein Bestseller für die Bahnhofsbuchhandlung wird. Reen ist einer, dem ich glaube, dass ihm HipHop mega viel bedeutet, aber er schreibt halt keine Küstenkrimis. Ein ähnlich verbitterter Fall ist doch Separat. Kommerziell bedeutungslos, aber ähnlich wie Reen einer mit Herz für HipHop.