laut.de-Kritik
Sturm-und-Drang-Indie, der fünf Zielgruppen zugleich anspricht.
Review von Michael SchuhOb es ein Yung Hurn ist, ein ganzer Stall voller Lils (der, der oder der) oder völlig unaussprechbare Charaktere wie 6ix9ine - bislang sind vor allem Rapper via Soundcloud zu Ruhm gekommen. Ab sofort heißt es umdenken: Nilüfer Yanya holt den Soundcloud-Hype rüber ins Rock-Game und veröffentlicht praktischerweise unter ihrem echten Namen, den man sich nämlich auch auf die Hand schreiben muss, um ihn sich zu merken.
Yanyas Debütalbum "Miss Universe" wird dies aber bald ändern. Seit die Londoner Musikerin mit Wurzeln in Irland, der Türkei und Barbados 2014 erstmals eigene Songs auf Soundcloud lud, ist so viel Zeit vergangen, dass sie locker schon drei Alben hätte füllen können. Der Hype weht seit mindestens zwei Jahren durchs Bescheidwisser-Internet, ohne Album spielte sie im Vorprogramm von The xx und Interpol, und als Beobachter fragt man sich, was die Dame geritten hat, dass nun geniale Songs wie "Thanks 4 Nothing" (2018) fehlen. Als Beobachter ahnt man aber auch: Weil Yanya einfach noch mehr geniale hat.
Man könnte also meinen, 2019 sei das Beste, was jungen Musikern hinsichtlich der Produktion und des Vertriebs eigener Musik passieren kann. Doch selbst heute scheinen Qualität und große Followerzahlen noch nicht jeden Experten zu überzeugen. Die hier versammelten zwölf Songs öffneten der 23-Jährigen absurderweise zunächst keine Türen: "Nach einigen Label-Meetings merkt man, dass diese Menschen alle dasselbe erzählen und auch alle gleich aussehen", lautet ihr Urteil. Schnell war klar: Wenn die Musik nicht klingt wie Ariana Grande, sind Majorlabels nicht interessiert. Das New Yorker Indie-Label ATO wird es freuen, denn "Miss Universe" feiert Minimal-Indie, kühle Elektronik und verrauchten Pop, der fünf Zielgruppen gleichzeitig anspricht und scheinbar nur von Nilüfer Yanyas tiefer Stimme und ihrem Händchen für Melodienreichtum zusammen gehalten wird.
Schon ihr künstlerisches Durchhaltevermögen deutet an, dass hier eine starke Frau auftritt und so bezieht sich der Albumtitel auch auf das Gegenteil dessen, was eine Heidi Klum an Idealen propagiert. Konkret bastelt Yanya um ihre Songs fünf Skits, in denen sie eine Wellness-Firma erfindet, die Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl über Hotlines und bauernschlauen Social-Media-Kampagnen gegen viel Geld lohnende Figur-Challenges verspricht. Schließlich führt nur ein perfekter Körper zu des Menschen oberstem Ziel, der vollkommenen Einheit von Körper, Geist und Seele.
Eine Dystopie, die in Teilen leider heute schon zu beobachten ist und viele Menschen zermürbt, wie Yanya im Opener "In Your Head" feststellt: "Down here I'm dark and confused / I cannot tell if I'm paranoid / or it's all in my head". Aus dem begleitenden Sturm-und-Drang-Indie lugt das Strokes-Fantum ihrer Teenagerjahre deutlich heraus. Doch festnageln lassen sich ihre Songs sowieso kaum: Ob man nun in ihrer Stimme soulige Spurenelemente einer Amy Winehouse, die stimmliche Vielseitigkeit einer PJ Harvey oder gar die Pop-Sensibilität einer Madonna heraushört: Man wird nicht enttäuscht.
4/4-Dance-Beats, die sich aus einer Spielerei auf der akustischen Gitarre herausschälen ("Baby Blu") oder das strukturell ähnlich gebaute "Paradise", nur mit Saxophonsolo statt Beats. Man spürt schnell, dass Yanya jede musikalische Idee umsetzen kann, ohne dass ihr Gesamtkonstrukt zusammenfällt. "Miss Universe" glänzt mit einer Ausgewogenheit aus Experiment und Catchyness, die zuletzt Tash Sultana zu großem Erfolg führte.
Man kann Yanya nur wünschen, dass sie ihren Weg stur geradeaus weitergeht. Denn natürlich bekam auch sie als Frau die Doppelmoral der Musikbranche schon zu spüren: "Man fühlt sich nie ganz sicher als Frau. Die Reaktionen sind oft heftiger, die Kritik härter. Es gibt kein System im Musikbetrieb, das einen davor beschützt", sagte sie in einem Interview. Die Wichtigkeit eines verkaufsfördernden Images für ein (männliches) Publikum ist nur ein Irrglaube, gegen den u.a. der Albumtitel offen ankämpft. Doch zum Glück gibt es trotz aller Ideale auch die schönen Momente im Leben, für die Nilüfer dann auch nur einen Zweizeiler benötigt: "In paradise I'll pay the price / But now you're here, the birds appear".
3 Kommentare mit 3 Antworten
Erster Durchlauf.
Potenzial scheint da kräftig durch.
großes tennis!
5/5
ok, jetzt bin ich neugierig.
Musik für Para.
jep
6. Absatz, 1. Satz:
4/4-Dance-Beats, die sich aus eineR Spielerei auf der akustischen Gitarre herausschälen [...].
I'm a simple man. You say "PJ Harvey", I go listen to that stuff... selbst, wenn hier nur die Vielseitigkeit der Stimme verglichen wird, was wiederum schon immer ein ausschlaggebendes Kriterium für meine Zuneigung zu PJs Musik war.