laut.de-Kritik
Die filigranen Songstrukturen weichen live der Dampfwalze.
Review von Stefan FriedrichWer das Glück hatte, Nine Inch Nails einmal live zu sehen, der wird diesen Moment wohl niemals so ganz vergessen. Trent Reznor - abseits der Bühne inzwischen ein wenig ruhiger geworden - mutiert auf der Bühne zum tollwütigen Derwisch, der sich im Rausch der Musik auf dem Boden wälzt, seine Gitarristen schonmal in den Bühnengraben schubst, oder dem Keyboarder zwei Becher Wasser in seine Konsole kippt. Auf "And All That Could Have Been" - erneut mit wundervollem Artwork von David Carson - wurde versucht, die Fragility-Tour für die Nachwelt auf Tonträger zu bannen.
Was bereits nach wenigen Momenten auffällt - die filigranen Songstrukturen weichen live der Dampfwalze, dem Hörer kommt eine einzige, dicke Soundwand entgegen, ein Anrennen dagegen wäre sinnlos. "Terrible Lie" reißt binnen Sekunden mit, ähnlich wie "Sin" oder "March Of The Pigs", die durch intelligente Härte und atemberaubende Geschwindigkeit den Hörer einfach mitziehen. "Piggy" bietet erstmals die Chance zum Luftholen.
"The Wretched" entfernt sich nicht merklich von der Studioversion und wirkt im Anschluss an die ersten Klassiker auf unerklärliche Weise seltsam. Zu ruhig vielleicht, beinahe wie eine Pause vor dem nächsten Brecher. Der folgt mit "Gave Up" auf dem Fuße - Reznor im Geschwindigkeitsrausch. "The Great Below" ist zwar prächtig, trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass die älteren Sachen live im Schnitt einfach besser funktionieren. "The Mark Has Been Made" kann diesen Eindruck nicht mindern, denn danach bekommt man "Wish" und "Suck" um die Ohren gehauen, als gälte es, dem Hörer jeglichen Orientierungssinn aus dem Hirn zu prügeln.
Auch "Closer" und "Head Like A Hole" erdrücken einen wiederum, bevor endlich auch Songs vom letzten Album ausreichend gewürdigt werden. "The Day The World Went Away" klingt anfangs schief und unstimmig, fügt sich dann jedoch auf wundersame Weise zusammen, lange nachdem der Hörer die letzte Chance zum Aussteigen verpasst hat. Gitarre, Gesang, einfach alles frisst sich langsam und unnachgiebig ins Hirn und blockiert dort sämtliche Synapsen, bevor "Starfuckers, Inc." das ganze wieder zu befreien versucht. Als Abschluss "Hurt", unendlich groß, unbegreiflich schön.
Trotz großer Momente ist "And All That Could Have Been" nur bedingt gelungen, da es der Platte nicht ganz gelingt, die Stimmung auf einem Nine Inch Nails-Konzert wiederzugeben. Andererseits ist das auf Platte auch eine nicht zu lösende Aufgabe. Interessanter dürfte sich da die Live-DVD gestalten, in den USA schon erschienen (und als Export erhältlich), in Deutschland wieder und wieder verschoben. Bei der ließ nämlich bereits der Trailer (www.andallthatcouldhavebeen.com) beinahe die komplette Redaktion mit offenen Mündern zurück.
"And All That Could Have Been" ist außerdem als Special Edition erschienen, mit einer zweiten CD, welche unveröffentlichte Stücke - alle sehr ruhig, oft nur mit Klavierbegleitung - und Neuinterpretationen schon bekannter Stücke enthält. Diese Ausgabe war allerdings schon vor Veröffentlichung in Deutschland vergriffen, wer Glück hat und nicht an unfähigen Verkäufern scheitert, kann aber vielleicht doch noch eine auftreiben.
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