laut.de-Kritik

Der Quasi-Nachfolger der "Downward Spiral".

Review von

Trent Reznor will dich nicht mehr wie ein Tierchen bimsen. Er hat sich verändert. Das abgemagerte Drogenwrack von einst mutierte erst zum Steroid-Hulk. Nach all den Strapazen trägt der stolze Familienvater und Oscargewinner heute eine freundliche Wohlstandsplautze unter seinen dunklen T-Shirts spazieren. Es sei ihm gegönnt.

Die zuletzt so erfolgreichen Arbeiten mit Atticuss Ross an den beiden Soundtracks "The Social Network" und "The Girl With The Dragon Tattoo" haben ein Stück der tief in Reznor verankerten Wut und Urgewalt entweichen lassen. So recht mag sich Reznor in seiner schönen neuen Welt aber noch nicht zurecht finden.

Leichter zugänglich als je zuvor kokettiert er mit Pop- und House-Elementen, findet zudem seine Interpretation des Funks. Zeitgleich bedient er sich genüsslich in seinem eigenen Backkatalog. Vieles am elektronischen Ansatz des neuen Longplayers erinnert an den Erstling "Pretty Hate Machine". "HALO 28" geht unentschlossen einen Schritt nach vorne, um gleich darauf zwei zurück zu weichen.

Erinnerungen an sein Meisterwerk "The Downward Spiral" nimmt Reznor ebenso mit. Wie 1994 zeichnet Russel Mills für die diversen Covergestaltungen rund um "Hesitation Marks" verantwortlich und setzt so einen direkten Link in die glorreiche Vergangenheit. Insgesamt entwarf der Künstler, der auch mit Japan, Brian Eno und Peter Gabriel zusammen gearbeitet hat, 30 verschiedene Kunstwerke. Sechs Stück schmücken allein schon die diversen Editionen des Albums.

"Mir wurde bewusst, dass mittlerweile 20 Jahre seit 'The Downward Spiral' vergangen sind", erzählt Reznor in einem Interview mit der New York Times. "Ich bin immer noch dieser Kerl. Ich vermisse diesen Typen zwar nicht, aber ich kenne ihn, fühle wie er. Doch wie würden sich all diese Dinge von der anderen Seite aus anfühlen? In einem geistig und körperlich stabilen Leben mit einer neuen Familie. Der Impuls hat sich verändert. Es geht nicht mehr um 'Ich bringe mich um, wenn ich das alles nicht aus meinem Kopf bekomme'. Aber die Ausgrabungen und die Architektur, die Motivation dahinter, sind ähnlich."

Fasst man dies alles zusammen, haben wir es mit einem Quasi-Nachfolger zu tun, der gleichzeitig das Kunststück vollziehen soll, NIN in eine neue frischere Zukunft zu führen. Doch eigentlich entspringt "Hesitation Marks" einer ganz anderen Ausgangslage. Als Goodie für eine anstehende Best Of-Platte nahm Reznor "Everything" und "Satellite" auf. Aus den mehr und mehr ausufernden Sessions zu diesen beiden Tracks entstand "HALO 28".

Hinter Bonus-Songs auf Greatest Hit-Kompilationen verstecken sich jedoch meist vorher aussortierte Stücke oder seltsame Experimente, die selbst in Fan-Kreisen schnell in Vergessenheit geraten. "Satellite" und "Everything" hätte das selbe Schicksal erwartet. Im ersteren versucht sich Reznor am Funk, bewegt sich dabei aber so hüftsteif wie ein 38-jähriger Geek, der zum ersten Mal im Club das Tanzbein schwingt. Guck, Sheldon Cooper tanzt für sich allein, tanzt auf einem Bein.

Wirklich starker Tobak stellt "Everything" dar. Ein schlechter Scherz, der sich aus flachem Pop, lahmen "I Just Can't Get Enough"-Beats und Joy Division-Lärm für Minderbemittelte zusammensetzt. Dabei spielt Reznor immer wieder mit dem Titel seiner "Wave Goodbye"-Tour, bläst diesen im mehrstimmigen New Kids On The Block-Stil unters Volk. Nicht von irgendwoher ließ ein im Internet verbreitetes Fan-Video den NIN-Kopf auf einem Einhorn an Regenbögen und Pikachu vorbei reiten. Aber vielleicht spielt Reznor nur mit einer alten Maxime: "Always be yourself. Unless you can be a unicorn. Then always be a unicorn."

An diesen in der Mitte angesiedelten Liedern zerbricht "Hesitation Marks" in zwei Hälften. Die erste Halbzeit füllt Industrial-Pop: elektronische Denkmäler aus der Vergangenheit, stilistisch mit zeitgenössischen Sound-Elementen aufgefrischt. "I am just a copy of a copy of a copy / Everything I say has come before," singt Reznor, als wäre er sich dieser Prämisse nur zu bewusst.

Gleich an den Beginn von "HALO 28" platziert Reznor die eingängigsten und aufwühlendsten Tracks. "Find My Way" wandert auf den Spuren von "Something I Can Never Have". Das energiegeladene "Copy Of A" lässt über einem Swarmatron-Synthesizer den alten Wahn spüren, ohne dass er letztendlich ausbricht. Der Künstler überlässt mittlerweile den Instrumenten das Schreien.

Die erste Vorabveröffentlichung, der Retro-Track "Came Back Haunted", folgt auf dem Fuße. Das von einem David Lynch-Video veredelte, düstere Stück glänzt mit einer harten Elektro-Bassline, die erst im späteren Verlauf ein hartes, säuregetränktes Gitarren-Break unterbricht. Dabei verlässt sich Reznor auf den altbewährten, sich langsam steigernden Aufbau mit zwischengeschobenen Zäsuren.

Im wohl besten "Hesitation Marks"-Track erfüllt Reznor nun endlich das Versprechen, an dem er bei "Satellite" noch scheiterte. Mit "All Time Low" hält der Funk dank Adrian Belews kalt angeschlagener Gitarre Einzug ins Nine Inch Nails-Universum und trägt einen silbern strahlenden Roboteranzug. All dies täuscht jedoch nur kurzzeitig darüber hinweg, dass sich unter dem neuen, kraftstrotzendem Gewand nichts weiteres befindet, als ein gelungenes, aber eben auch aufgewärmtes "Closer 2.0".

In der zweiten Häfte, nach "Everything" und "Satellite", zersplittert "Hesitation Marks" an seinen immer erfolgloseren Experimenten. Beginnt "Various Methods Of Escape" noch als typischer, aber doch recht leidenschaftsloser NIN-Song, kippt er in seinem letzten Viertel dank deplatzierter Rock-Gitarre und rumpelndem Standardschlagzeug in Richtung U2-Stadion-Rock. Das zwischen lahm und atmosphärisch angesiedelte "I Would For You" durchbohrt ein unausgegorener, breitbeiniger Refrain. Effekthascherei nimmt gegenüber dem Songwriting überhand. Reznor befindet sich nur noch dreißig Sekunden vom Mars entfernt.

Erst mit dem minimalistischen "While I'm Still Here" und Reznors überraschenden Saxophon-Part bekommt das NIN-Oberhaupt noch einmal die Kurve. Viel mehr als einen tackenden Beat, sparsam eingesetzte Percussions und manch eine Synthesizer-Spielerei braucht dieser Track nicht, um das meiste auf "Hesitation Marks" in den Schatten zu stellen. Ohne Unterbrechung geht die Nummer in "Black Noise" über, das einen "While I'm Still Here"-Loop bis in den Schmerz entfremdet: ein versöhnliches Ende für eine durchwachsene Platte.

Ein Charakteristikum der einzelnen Nine Inch Nails-Longplayer stellte immer ihre Geschlossenheit dar, die den Reiz ausmachte. Zu ihrer von der Außenwelt abgeriegelten Atmosphäre musste man erst einmal einen Eingang finden. Oft war dieser schwer zugänglich und mit Disteln und Dornen verwachsen. "Hesitation Marks" wirkt hingegen wie eine Lieder-Ansammlung, durch deren offene Stellen pfeifend der Wind weht. Reznor hat Wut, Dringlichkeit und das Gefühl des drohenden Unheils verloren und befindet sich noch auf der Suche nach Ersatz. Das Schicksal bahnt sich wie immer seinen eigenen Weg, und ohne das es ihr Schöpfer bemerkt hat, finden sich "Everything" und "Satellite" doch noch auf einer fragmentarischen Song-Kompilation wieder.

Trackliste

  1. 1. The Eater Of Dreams
  2. 2. Copy Of A
  3. 3. Came Back Haunted
  4. 4. Find My Way
  5. 5. All Time Low
  6. 6. Disappointed
  7. 7. Everything
  8. 8. Satellite
  9. 9. Various Methods Of Escape
  10. 10. Running
  11. 11. I Would For You
  12. 12. In Two
  13. 13. While I'm Still Here
  14. 14. Black Noise

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Nine Inch Nails – Hesitation Marks [Vinyl LP] €51,85 Frei €54,85

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Nine Inch Nails

"I hurt myself today, to see if I still feel." ("Hurt", 1994) Eine Zeile, die der große Johnny Cash siebzigjährig zu seiner Gitarre sang, die aber …

35 Kommentare mit 40 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Korrekturen, falls gewollt:

    "Ein einem geistig und körperlich stabilen Leben mit einer neuen Familie. " (Ein = In)

    "Fast man dies alles zusammen,…" (=Fasst)

    "Im ersteren" (Im Ersteren?)

    " Dabei spielt Renzor" (=Reznor)

    "die erst in späteren Verlauf ein hartes, säuregetränktes Gitarren-Break unterbricht" (in = im)

    So, hab ich jetzt ne CD gewonnen? :D

    (Sorry für's Klugscheissen^^)

  • Vor 11 Jahren

    Zusätzliche Korrektur: "Das energiegeladene "Copy Of A" lässt über einem Swarmatron-Synthesizer den alten Wahn spüren, ohne das er letztendlich ausbricht." (ohne dass)

    Ja, die Platte klingt ab und an wirklich etwas langweilig, ähnlich wie schon das Album von "How To Destroy Angels". Trotzdem ist der Rezensent gleichzeitig unmotiviert und ungnädig, was sich auch in seinem dahingeschluderten Text zeigt. Die Produktion ist klasse und die neuen Facetten im NIN-Sound gefallen mir besser als die letzten Scheiben, die arg elektronisch und zeitweise etwas anstrengend waren. Für mich schafft das Album gerade noch so die 4-Punkte-Marke, mit etwas besserem Songwriting hätte es auch an den 5 kratzen können.

    • Vor 11 Jahren

      Du willst doch auch nur eine CD abgreifen, oder? Die "Back To Eurodance" ist nun aber schon weg.

    • Vor 11 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 11 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 11 Jahren

      Von einem Fehlerkorrekturwettbewerb mit CD-Gewinn wusste ich gar nichts, ich wollte nur die Liste von MalcolmStayne ergänzen, weil sie mir als relativ guter Hinweis darauf erschien, daß nicht besonders viel Zeit in die Rezension geflossen sein kann.

    • Vor 11 Jahren

      Da ist verdammt viel Zeit reingeflossen. Mehr noch als in manch andere. Trotzdem schleichen sich gerade bei langen Texten immer mal Fehler ein, die man selbst beim dritten drüber lesen nicht erkennt. Hätte ich diese Fehler gefunden, hätte sich aber auch nichts an dem Text und an meiner Meinung zu dem Album geändert. Ich habe es mir ziemlich genau zehn mal angehört, bevor ich auch nur den ersten Satz geschrieben habe und jedes einzelne Mal war ich am Ende enttäuscht. Das muss nicht deine Meinung sein. Wenn ich aber etwas anderes geschrieben hätte, hätte ich mich selbst belogen.

    • Vor 11 Jahren

      Zu dieser Fehlergeschichte: prinzipiell kommt das natürlich schon etwas kleinkariert. Auf der anderen Seite Schätze ich es sehr, dass ein Großteil der hier veröffentlichten Kritiken und Texte eben neben der schönen Formulierung auch fehlerfrei geschrieben und grammatikalisch korrekt sind, was mMn. auch die Qualität einer Rezension ausmacht und was laut.de von vielen anderen Musik-Portalen im Netz abhebt. Deswegen bin ich seit Jahren Leser und, ja, deswegen hab ich mich zu dieser Kleinkariertheit motiviert gefühlt.. Sorry, back to Topic!

    • Vor 11 Jahren

      Gar kein Problem. Mir ist lieber, jemand sagt etwas, als das so Fehler stehen bleiben. Deine Kleinkariertheit ist mir da sehr willkommen. :)

    • Vor 11 Jahren

      ja und nein...willkommen als hilfestellung zum verbessern immer; als rückschluss auf die motivation des autors nie. wer fängt denn an, bei druckfehlern in der zeitung dem jeweiligen autor inhaltliche schludrigkeit zu unterstellen? vielleicht gibt man die texte ja als diktat oder notensatz ab....formale hilfe ist erwünscht. der zusammenhang zu den geäußerten thesen muss getrennt betrachtet werden. alles andere wäre unredlich.

    • Vor 11 Jahren

      Ich hab ja nur von meinem Eindruck geschrieben und daß der schluderige Text in Verbindung mit der inhaltlichen Schluderigkeit Hinweise auf die Mühen des Verfassers sein können. Wenn ich einen Text verfasse, so versuche ich, zwischen Inhalt und Form keine all zu starke Diskrepanz entstehen zu lassen. Wenn er sich aber ernsthaft mit der Platte auseinandergesetzt und sie 10 mal angehört hat, dann ist die Vermutung ja entkräftet. Jeder arbeitet eben anders.

  • Vor 10 Jahren

    "bläst diesen im mehrstimmigen New Kids On The Block-Stil unters Volk"
    gäbe es rezensionen zu rezensionen wäre das eine 1/5, sorry. eine der dümmlichsten besprechungen des albums so far.

    dabei bin ich nicht mal ein reznor-fanboy.
    "hesitation marks" ist schlicht das ehrlichste was reznor abliefern konnte und ist deswegen erstmal in sich okay. kein ausverkauf, kein reunionwahn.
    scheinbar im gegensatz zu vielen anderen fand ich die vorabsingle "came back haunted" extrem vielversprechend, viel besser als zb "survivalism" (2007).
    das album klingt letztlich doch viel anders. mich hatte auch das artwork anfangs irritiert. derselbe beauftragte wie bei "the downward spiral" (1994)? sah auch alles recht ähnlich aus. macht aber letztlich sinn.
    ich denke das interessante ist die erwartung von tiefgang bei einem künstler, der für selfdestruction und übermäßigen drogenkonsum bekannt war. hier schreibt reznor eher über die zustände nach "the downward spiral", dem harten weg zur abstinenz, leider eher weniger über die zeit danach. aber insgesamt stimmig weil teil eines prozesses im sinne der veröffentlichungsgeschichte.
    es ist die post-spiral.

    ganz sicher traut sich reznor hier auch viel mehr als bei allen anderen alben seit dem sobertum, also 2005.

    "all the love in the world" war zwar der eröffnungstrack vom comebackalbum "with teeth" 2005, aber irgendwie sehr einsam auf jener platte, die sich teilweise in gescheiterten rockübungen und einem anti-bush-gassenhauer abmühte.

    hier macht reznor viel eher als bei sämtlichen anderen platten seit "the fragile" was er will und das führt vor allem zu tanzbaren beats und einem eher unrockigen arrangement.

    "various methods of escape" ist auch ein sehr guter song aber vielleicht der peinlichste auf dem album, weil er ganz offensichtlich eine art "the fragile" sein will.
    ansonsten auf dem album viele ausreisser, die nin in ganz neue gefilde überführen: z.b. "all time low", "i would for you"...

  • Vor 10 Jahren

    Mag sein, dass Reznor mit diesem Album genauso authentisch ist wie mit seinen bisherigen, aber wer NIN von Anfang an begleitet, kann eine gewisse Laschheit dieses Albums nicht abstreiten. Ich bin ein Fan und möchte es auch bleiben, aber ein bisschen Enttäuschung kann ich mir nicht verkneifen.

  • Vor 10 Jahren

    Ich war ja nicht gerade euphorisch, aber mit einigen Monaten Abstand muss ich sagen, dass die tendenzielle 4 doch nur eine 3 ist. Klang und Atmosphäre sind da, aber mir fehlen rückblickend einfach die Highlights.
    Letztlich ist "Year Zero" für mich die letzte echte Nine Inch Nails-Scheibe. "The Slip" war ein Nachschlag, ein Geschenk... die "Ghosts" ein Experiment und das Album hier ein weiteres, was in der Diskographie für sich allein steht.