laut.de-Kritik

Ein Folk-Mac Miller für den Country-Boom.

Review von

"Stick Season" und die zugehörige Deluxe-Edition "We'll All Be Here Forever" sind zwar schon eine Weile draußen, aber durch einen konstanten Strom an Remixes, unter anderem mit Post Malone und Hozier, gehört das überraschend explosive Folk-Album des davor quasi unbekannten Atzens aus Vermont zu den gerade dominanten Projekten des US-Mainstreams. Hört man rein, präsentiert sich ein ungleichmäßiges Album mit starkem Gefühl für Stimmung, das vor allem einen spannenden Missing Link in sich wandelnden Musiktrends markiert.

Wer ist Noah Kahan? Auf den ersten Blick ist er ein folksy anmutender Flanelhemd-Prettyboy aus einem Dorf an der kanadischen Grenze – und seine Musik hat diese nicht ganz niedergeschlagene, aber gerade-melancholisch-genug-klingende herbstliche Kante, die man in die Indie-Folk-Explosion um 2010 einsortieren würde. Der erste Blick diagnostiziert irgendwo zwischen The Lumineers und Bon Iver. Er sagt selbst auf dem Opener "Northern Attitude": "forgive my northern attitude, I was raised on little light".

Besonders sein Titeltrack "Stick Season" genoss im letzten Jahr immensen viralen Erfolg und rangiert jetzt gerade nahe der Spitze der amerikanischen Spotify-Charts. Hört man rein, würde sich schnell erklären, dass sich hier ein herbst-winterlicher TikTok-Hit verbirgt, denn die lockere Instrumentation mit dem starken Knock gegen die etwas grimmigeren Lyrics fängt definitiv etwas über das lichtarme Dorfleben im Norden ein, das man auch in Deutschland vielleicht gar nicht so schlecht nachvollziehen kann. Dass Noah Kahan trotz des Artsyboy-Look auch eher von der Marke relateable und humorvoll daherkommt, hilft; spontan wirkt es nicht so falsch, ihn als so etwas wie den Folk-Country Mac Miller zu beschreiben.

Aber es ist nicht nur TikTok: Kahan hat sich quasi sofort zu einem sehr beliebten Artist in seiner Nische gemausert. Die Deluxe-Edition hat er zum Beispiel mit der Hit-Single "Dial Drunk" aufgespannt; da nimmt er die Perspektive eines festgenommenen Alkoholikers, der gegen besseres Wissen seine Ex als Notfall-Kontakt angibt und die Cops anbettelt, sie anrufen zu dürfen, bis selbst die irgendetwas wie Mitleid für ihn empfinden. Es ist eine seltsame, aber starke Song-Prämisse, die mit den cineastischen Banjos und dem tiefen Bass etwas Indiefilm-Hymnenhaftes annimmt.

Es muss also eine Mischung aus Personenkult und starken Songs sein, die den Aufstieg von "Stick Season" erklärt, aber das ist nicht alles. Denn die ganze Zeit im letzten Jahr stellte sich doch irgendwie die Frage: Was ist eigentlich die Nische, die dieser Mann da übernimmt? Und warum ist sie so lange unbesetzt gewesen?

Rateyourmusic führt seine Musik unter dem Genre-Begriff Stomp And Holler. Und guckt man einmal durch deren interne Charts und merkt, dass selbst das best-bewertete Stomp And Holler-Album gerade so bei einer okayen Bewertung sitzt, merkt man, dass das kein wirkliches Genre mit wirklichen Fans ist. Stomp And Holler war eigentlich ein Spotify-Cluster-Begriff, der Post-Mumford & Sons-Musik zusammengefasst hat, die folksy Ästhetik mit Pop-Produktion durch die 2010er geritten ist. Starbucks-Musik, wie in einem Artikel boshaft zusammengefasst wurde, ein Trend, der eigentlich seit vielen Jahren auserzählt schien.

Aber alles, was es gebraucht hat, war eine starke Ästhetik und ein sympathischer Typ, um Stomp and Holler-Starbucks-Core zurückzubringen. Denn man muss ja festhalten, dass wenn man sich die Zahlen bekannter Indie-Artists so ansieht, Indie Rock als kommerzielle Präsenz nie so weit vom Mainstream abgeschlagen war, wie man glauben möchte. Noah Kahan greift nun gewieft in drei Trends auf, die das Fenster für einen Kerl wie ihn weit aufgestoßen haben.

Zunächst beginnt seine Ästhetik genau dort, wo Taylor Swift nach "Folklore" und "Evermore" den Stift abgesetzt hat, aber nach ihrem Weggang niemand das neu gefundene Interesse bedient hat. Zweitens ist er Country-esk genug, um in der gerade massiv steigenden Clout des Genres mitzumischen. Features mit Zach Bryan und Kacey Musgraves gab es schon, eins mit Morgan Wallen soll gerade in der Mache sein. Und das ist das Dritte: Er weiß, wie man das moderne Streaming-Game spielt, er weiß, wie man Hype zwischen Genres hin und her schiebt und ist bereit, alles mitzunehmen, vom TikTok-Hit bis zum Post Malone-Feature.

Das erschließt dann leider auch, warum "Stick Season" abseits der Hit-Singles deutlich weniger zu bieten hat, als man erwarten würde. Das starke Songwriting ballt sich sehr klar auf drei oder vier Singles, der Rest verdünnt sich eher zu einer kohärenten Ästhetik, die man sicherlich sehr gut an einem Wintertag unter blauem Himmel zum Waldspaziergang anmachen kann, aber doch nicht das Hinterland bietet, das ein großartiges Folk-Album machen würde. So stimmig "Stick Season" ästhetisch daherkommen mag, verliert es doch nicht ganz das Gefühl, dass wir es hier mit einem sehr genau komponierten Produkt zu tun haben.

Trackliste

  1. 1. Northern Attitude
  2. 2. Stick Season
  3. 3. All My Love
  4. 4. She Calls Me Back
  5. 5. Come Over
  6. 6. New Perspective
  7. 7. Everywhere, Everything
  8. 8. Orange Juice
  9. 9. Strawberry Wine
  10. 10. Growing Sideways
  11. 11. Halloween
  12. 12. Homesick
  13. 13. Still
  14. 14. The View Between Villages
  15. 15. Your Needs, My Needs
  16. 16. Dial Drunk
  17. 17. Paul Revere
  18. 18. No Complaints
  19. 19. Call Your Mom
  20. 20. You're Gonna Go Far
  21. 21. The View Between Villages - Extended

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