laut.de-Kritik
Sample-Wahnsinn aus der Hotel-Spa-Traumwelt.
Review von Ben SchiwekAus etwas bereits Existierendem Neues zu schaffen, ist eine Aufgabe, die Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never schon oft mit Bravour gemeistert hat. Samples und Instrumente führt er in faszinierenden Texturen und greifbaren Stimmungen zusammen. "Tranquilizer" treibt die Idee des klanglichen Upcyclings auf die Spitze, geht es aber anders an.
Lopatin stellt die Samples und Instrumente als ursprüngliche Erinnerung ganz bewusst in den Raum und lässt sie genau das sein, was sie sind. Das einzigartige, neue Gefühl kommt eher durch die Zusammenstellung all dieser Sounds – einer Traumwelt-Collage voller Dinge, die nicht zusammengehören.
Den Funken hinter "Tranquilizer" bilden Sample-CDs aus den 90ern: musikalische Ordner voller Motive, Instrumente, Loops und Geräusche, die man dann in Musikproduktionen, Videospielen oder Werbeclips verwenden konnte. Lopatin fand eine Reihe an CDs dieser Art mit Lesezeichen versehen im Internet – bis sie eines Tages aus dem Archiv verschwunden waren. Das bewegte ihn dazu, diese CDs aufzusuchen und ein Album daraus zu kreieren.
Somit ist die Grundlage von "Tranquilizer" etwas, das jemandem, der Musik um der Kunst willen macht, eigentlich zuwider sein müsste: Diese Sample-CDs sind Baukästen für prozessorientiertes Songwriting. Für Musik, die oft lediglich einen Zweck erfüllt. Wie Lopatin aber selbst erklärt, führt gerade dieser kommerzielle Aspekt des Materials "einen bestimmten Wahnsinn und Ennui im Herzen der Kultur heutzutage" vor.
Vielen Instrumenten hört man an, dass sie aus einer anderen Ära stammen. Manche Synthesizer oder Bläser klingen eindeutig nach den 70ern und 80ern. Aber sie stehen futuristischen, brachialen Glitches gegenüber. Es ist wie eine Reise durch die Zeit, durch Wärme und Kälte, durch Kitsch und Trostlosigkeit. Geradezu cheesy sind manche Sounds: fake klingende Panflöten und Xylophone in "Storm Show" oder Wasser-Samples und asiatisch angehauchte Synth-Arpeggios wie aus dem Hotel-Spa-Bereich in "Waterfalls". Das ist charmant, weil sie nur ein kleiner, nostalgischer Teil in einem großen Raum sind.
Das Album eröffnet mit dem verträumten, und dennoch vor Inhalt übersprudelnden "For Residue". Schwebende Synth-Pads und Erinnerungen an Prog-Rock der 70er. Töne starten immer wieder neu, schwellen an, ein schreiendes Baby – eine wunderbar psychedelische Einleitung. Dieses Gefühl führt "Bumpy" mit viel Glitzer und Sounds fort, die wie das Ausstoßen von Luft klingen.
Unregelmäßige, lärmende Blitze durchbrechen die scheinbare Ambient-Ruhe in "Measuring Ruins", dennoch sind in jedem Moment plötzliche Wechsel möglich. Songs wie "Lifeworld" scheinen verfrüht zu enden, um sich dann plötzlich wieder zu entrollen. "Storm Show" klingt erstmal tropisch, dann leiten unrhythmische Synthesizer in Stille und Vogelzwitschern über – und als es ruckartig wieder losgeht, erreicht es den wirbelnden Höhepunkt aus allem, was zuvor kam.
Ein paar Tracks wirken durch die vielen Wechsel etwas richtungslos. Highlights wie "Modern Lust", "Fear Of Symmetry" oder "Cherry Blue" reißen aber direkt mit fesselnden Stimmungen mit, die Lopatin unberechenbar und bunt erweitert. Die Tracks entziehen sich auch nach einigen Hördurchgängen einem klaren Bild. Wie erholsam anderweltlich und gleichzeitig faszinierend überbordend "Tranquilizer" ist, bemerkt man aber schon beim ersten Hören.


1 Kommentar
Kann ja nicht alles so gut wie Jane Remover sein, aber werde mal reinhören.