laut.de-Kritik

Harte Themen, harter Rock, raue Stimme, ohne Weichspüler.

Review von

Vor Pat Benatars "Crimes Of Passion" war Sexualität im Rock'n'Roll in erster Linie Bühnen-Show. Elvis the Pelvis, also "das Becken", und sein Piano-Pendant Jerry Lee Lewis, blieben dabei lange unerreicht - der eine turnte im Stehen, der andere im Sitzen, Robben, Krabbeln auf dem Klavier. Obschon die enorme fleischliche Energie, die in Hendrix-Riffs, Joplin-Gesang und unendlich langen Doors-Darbietungen steckte, der Katharsis eines Orgasmus nahe kommen, war spätestens mit den Todesfällen im 'Club 27' klar: Hier waren eher harte Substanzen und ein Hang zur Manie der Treibstoff für die Bühnen-Eskapaden, als dass es Sexualität gewesen wäre.

Pat Benatar ließ sich nur schwer zu einer Teilnahme an MTVs "Behind The Music" überreden. Denn sie kannte die Sendereihe und fragte sich, wie sie dort rein passe: Bei ihr gäbe es ja gar keine Drogen-Story zu erzählen. In den 1980ern ist sie das weibliche Gesicht des Hardrock. Ihre Musikvideos eröffnen sogar die Clip-Rotation auf MTV. Sie bricht ins Jahrzehnt mit einer Aufforderung zur Penetration auf, "Hit Me With Your Best Shot", und mit einer Semi-Ballade über die Schattenseite sexueller Fantasien. Nein, nicht AIDS, das ist in jenem Jahr noch kein großes Thema, sondern Vergewaltigung, Kindesmissbrauch: "Hell Is For Children" glänzt als mutiges Lied, bei aller Düsternis, und folgt demonstrativ als Track direkt nach "Hit Me With Your Best Shot".

Bevor ihr jetzt gleich verzweifelt in der Tracklist des Albums nach diesem einen großen Hit sucht und euch fragt, wie hieß denn der noch gleich?! - "Love Is A Battlefield" kam ein paar Jahre später. Klar, als Benatars größter Erfolg schaffte es diese Nummer auf zahllose Eighties-Sampler. Der Song fällt aber ein bisschen raus. Er stammt nicht von Benatar und ihrer Band, sondern von Holly Knight, der Autorin von Aerosmiths "Rag Doll", und von Mike Chapman, Fließband-Songfabrikant für die Smokie-Suzi-Quatro-Fraktion. Er nahm einen Auftrag von Benatar entgegen, die sich von Chapman ganz kalkuliert einen Hit ersehnte, nachdem er ihr schon zum Einstand in ihren Plattenvertrag als Autor und Produzent an die Seite gestellt worden war. Ich selbst habe Pat auf einer Kassette dank diesem Stück kennen gelernt, mit einem Walkman an einem Schwimmbecken. Es war mein Zugang zu diesem ganzen Achtziger-Keyboards-Sound, als er lange vorbei war. Dennoch: "Love Is A Battlefield" entspricht nicht dem Stil von Pat Benatar.

Kurz ein Exkurs dazu, um "Crimes Of Passion" einzuordnen: Charlie Giordano heißt der phänomenale Keyboarder, ehemals E-Street-Band und 1980 noch nicht in Benatars Band an Bord. Er ermöglichte es, den Sound noch anzureichern und vom trockenen Hardrock ein bisschen mehr ins Melodiöse zu verschieben. Neil Giraldo, genannt Spyder, heißt der Arrangeur, der Pat Benatar zwischen "Crimes Of Passion" und "Love Is A Battlefield" heiratet, bis heute mit ihr liiert ist. Linn nennt sich die Drum-Machine, die nur ein paar Jahre, ab 1982, auf dem Markt war und auf "Love Is A Battlefield" für eine damals ungehörte Klangfarbe sorgt, wie sie 1980 technisch so noch gar nicht möglich gewesen wäre. Weder Mike Chapman noch der Europa-Vertrieb EMI können der Gestaltung des Tunes etwas abgewinnen, doch Pat und ihr Mann setzen sich damit durch. Das Video erzielt in jenen frühen MTV-Tagen große Berühmtheit, und ein Duett von Pat und Rapperin Queen Latifah ringt diesem Hit einige Jahre später eine völlig neue Seite ab. Aber auf einem Studioalbum landet "Love Is A Battlefield" nie und kommt daher kaum für unsere Meilensteine infrage.

Umgekehrt, als Pat eine B-Seite für die 45er-Vinyl erwählen soll, fällt die Entscheidung zugunsten des älteren Tracks "Hell Is For Children" und somit zugunsten eines Tabuthemas: Wenn Kinder infolge eines Missbrauchs eine posttraumatische Belastungsstörung erleiden. Als Krankheit erkennt sie die Berufsvereinigung der amerikanischen Psychiater erst 1980 an, also in genau dem Jahr, in dem Pat ihr "Hell Is For Children" das erste Mal herausbringt, und auf der Rückseite von "Love Is A Battlefield" findet sich "Hell Is For Children" in der längeren Tour-Version ein zweites Mal und somit bis heute sicher in schätzungsweise über sechs Millionen Plattensammlungen weltweit, zählt man "Crimes Of Passion", Live-LP und Single zusammen.

Die Lyrics sind sehr explizit, aber auch verdammt gut getextet. Ausschnitte: "They cry in the dark, so you can't see their tears (...) It's all so confusing, this brutal abusing. / They blacken your eyes. And then apologize: 'Be Daddy's good girl, and don't tell Mommy a thing. / Be a good little boy, and you'll get a new toy.'" Und heftig: "Tell Grandma, you fell of the swing" - das misshandelte Kind soll der Oma sagen, es sei von der Schaukel gefallen. Beginn einer Lebenslüge.

"Crimes Of Passion", also "Verbrechen aus Leidenschaft", hat keinen gleichlautenden Liedtitel. "Prisoner Of Love", benutzt aber diese Formulierung. Der Song führt aus, wie sehr Liebe den klaren Blick vernebeln und damit gefangen nehmen kann. Der recht standardisierte Song macht kaum etwas anders als der typische Sound von Foreigner aus jener Ära der langen Haare. Dass sich generell die Rollenmuster verschieben, greift Pat exzellent auf und verleiht ihrer kratzigen Stimme Looks, die am Unisex-Vokuhila einer Quatro vorbei ziehen. Gegenüber den Punk-Experimenten auf Cyndi Laupers Schädel, dem Pilzkopf-Punk-Mix bei Chrissie Hynde und dem optischen Bowie-Pendant Kim Wilde bietet Pat Benatar mit Kongruenz zu ihren sehr rauen und direkten Text-Botschaften in dieser Zeit eine Chance zur Identifikation für junge Menschen, die ihr Zuhause zwischen den Fronten der Popper und der Punker in den '80ern nicht finden.

Daher sollte man das Phänomen Benatar im Kontext ihrer Zeit sehen. Sie zählt zum Konsequentesten, was die AOR-Front seinerzeit hergibt. "Crimes Of Passion" mag sicher mit dem historischen Gewicht eines "Abbey Road" der Beatles nicht vergleichbar sein und ist nicht der überlebensgroße Meilenstein, aber für seine Zeit und sein Genre ein überdurchschnittliches, selten konsistentes Werk. Mehrere Songs haben 44 Jahre sehr eindrucksvoll überlebt, ohne Patina anzusetzen.

Da wären der feurige und gniedelnde Starkstrom-Purismus "Little Paradise", das zuckelnde Intro-Riff von "Treat Me Right" und das von Blues und Glam geprägte, dissonante "You Better Run" mit einem Klirren am Bass, das wie eine Kurvenfahrt am Hockenheimring mit quietschenden Reifen klingt. Thema: Liebe ist ein Schlachtfeld. "Treat Me Right" gilt als Forderung und Bedingung, bevor Pat das Bekenntnis "Never Wanna Leave You" in ihrer liebreizendsten Stimmlage aus ihren flexibel genutzten vier Oktaven säuselt. All diese Nummern stehen mehr für ein Rock'n'Roll-Lebensgefühl als das meiste andere des Jahrzehnts.

"Never Wanna Leave You" gibt den Protagonisten und uns beim Hören Zeit. Von einer hörenswerten Schlagzeug-Etüde wandelt und entwickelt sich der smarte Song zu einem Schaulaufen scheinbar wild Kreisel fahrender Gitarrenläufe. Dabei legt Multiinstrumentalist Giraldo seine Lead-Guitar so geschickt auf seine Keyboard-Tonleitern-Jagd, dass sich beides zusammen wie vertonte Stroboskop-Blitze anhört und ein bisschen furchteinflößend, mehr nach dem Soundtrack zu einem True Crime-Format als nach "Crimes Of Passion".

Gewiss, heute würde man so nicht produzieren, weil man sofort an diese Epoche der Aufrüstung im Kalten Krieg, der Angst vor Atom und Apokalypse denkt und an eine Klangästhetik, die heute aus der Mode scheint. 1980 ist sie visionär.

Kate Bushs "Wuthering Heights" covert Benatar auf "Crimes Of Passion" im Classic Rock-Gewand. Das Lied schrieb schon per se Geschichte, ein gewisser naiver Beiklang bei Bush verschwindet hier. Dabei ist der Text aus der Sicht eines narzisstischen Mädchens eben sehr naiv oder legt viel Kalkül offen, je nach Interpretation. Es geht um rasende Eifersucht, Kontrollwahn, Besessenheit, Hassliebe, man kann auch Stalking-Pläne heraus lesen.

Die Aufnahme fügt "Crimes Of Passion" ein theatrales Intermezzo hinzu, mit Melodiebögen, die aus einer Puccini-Oper stammen könnten. Das bebende Bekenntnis in "Out-A-Touch", "I need you", wiederholt Pat am Liedende immer eindringlicher, bis tiefe glühende Sehnsucht als Rausschmeißer-Gefühl zum Abschluss des Albums verhallt. Erst jenseits der drei Minuten setzt die Steigerung ein, als der Song schon vorüber scheint und doch erst zur Hochform aufläuft.

"Hit Me With Your Best Shot" als bekanntester Track der LP wendet sich sarkastisch und angriffslustig Kerlen zu, die vorgeben, Singles zu sein, ihren lockeren One Night Stand-Spaß suchen und dann mehr wollen. Gibt man - also Frau - ihnen mehr, verschweigen sie, dass sie eigentlich doch etwas anderes, Festes am Laufen haben. Obwohl sie mit der Wahrheit langfristig weiter kämen: "Come on, you don't fight fair!". Wo sie es doch gar so nötig haben, Herzen zu brechen, "breaking little hearts", sollen sie doch gleich ohne Umschweife zur Sache kommen, "let's see how you're doin'". Einmal durchschaut, kann man ja die Erwartungen niedrig schrauben. Wobei die Erniedrigung, das Benutztwerden, bleibt: "But that's okay, see if I care / Knock me down, it's all in vain / I'll get right back on my feet again." - Anscheinend verdirbt diese offene Flanke dem Jäger der schnellen Nummer das Spiel.

"Out-A-Touch" leitet mit ungreifbaren, weit entfernten Stars in Hollywood und Hochglanz-Presse (heute wär's Instagram) ein und schwadroniert über das, was man parasoziale Beziehungen nennt. Beziehungen, die sich nur im Leben des Fans abspielen, der Promi weiß nichts über den Fan, der aber umgekehrt gefühlt alles über den Star.

Dass ernste Lieder mit Aussagekraft sich heute nicht mehr so sehr gut durchsetzen, ficht Pat kaum an. Sie erreichte schon, was sie wollte, will sich dem Musikbiz nicht (mehr) anbiedern, den Marketing-Plänen von Plattenfirmen, dem schnelllebig gewordenen Hopp oder Top des kühlen Software-gesteuerten Formatradios und der App-Algorithmen. Ihre ganze Brillanz spielte die Eastcoastlerin besonders auf der Bühne aus.

Wenn ihr die folgende Ansage seht oder die Übersetzung lest, werdet ihr wahrscheinlich auch keine Lösung wissen, wie man sowas in 15 Sekunden Insta-Reel, Tik Tok-Clip, YouTube-Short oder Formatradio-O-Ton packt. Dieses Zurückdrängen von Inhalt auf nicht zuende gedachte Gedanken macht solchen Singer-Songwritern den Garaus, deswegen kommen kaum noch Benatars nach. "Von all dem, was wir über die Jahre geschrieben haben, ist das nächste eines der wichtigsten, wenn nicht das allerwichtigste Stück." - Feuer frei für diesen und weitere von Pat Benatars Best Shots!

"1979 nahm diese Geschichte ganz organisch ihren Lauf. Wir waren in New York, und da gab es ein großes Dossier über Kindesmissbrauch in Amerika, das war gerade aktuell. Ich wuchs in einer wirklich kleinen Stadt auf, in Long Island, hatte eine behütete und echt großartige Kindheit. Wundervolle Eltern, tolle Familie, all das. Was ich dann las, machte mich wie betäubt und entsetzt mich. Das inspirierte mich, diesen Song zu schreiben, ich fing damit an und reichte ihn dann an Spyder weiter. Als er den Schmerz und die Qual im Text hörte, machte er (...) diese Gefühle mit der Musik lebendig, die er komponierte. Wovon ich finde, dass er's schön gemacht hat." - Dieses Lied ist in der Tat mehr als nur wichtig, sondern originell und schön umgesetzt.

"In 20 Jahren verzichteten wir nicht ein einziges Mal auf das Lied, wo immer wir auftraten. Wir spielen es in Solidarität mit allen Kindern, die einem solchen Risiko ausgesetzt sind, und für alle, die einen Missbrauch überlebt haben. Damit ihr wisst: Ihr habt eine Stimme, es kümmert sich jemand um euch." - "Hell Is For Children" bleibt eine der traurigsten und wütendsten und zugleich schönsten Rock-Balladen und eine, die keine sein wollte und sich dann doch eher als eine Explosion mit langem Anlauf entpuppt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Treat Me Right
  2. 2. You Better Run
  3. 3. Never Wanna Leave You
  4. 4. Hit Me With Your Best Shot
  5. 5. Hell Is For Children
  6. 6. Little Paradise
  7. 7. I'm Gonna Follow You
  8. 8. Wuthering Heights
  9. 9. Prisoner Of Love
  10. 10. Out-A-Touch

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Benatar,Pat – Crimes of Passion €12,70 €3,00 €15,70
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Benatar,Pat – Crimes of Passion (1LP Black Vinyl) [Vinyl LP] €31,99 Frei €34,99
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Benatar Pat – Crime of Passion €70,65 Frei €73,65
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Pat Benatar – Crimes Of Passion €85,36 Frei €88,36
Titel bei http://www.amazon.de kaufen BENATAR, Pat – Crimes of passion / 202 845 €108,00 Frei €111,00
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Pat Benatar – Crimes of Passion Pat Benatar €225,00 Frei €228,00

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Pat Benatar

"Es gibt Regeln. Regel Nummer Eins: Wenn die Stelle kommt, die ich hasse zu singen, müsst ihr singen", weist Pat Benatar ihr Publikum an. Tonlos formt …

Noch keine Kommentare