laut.de-Kritik

Eine Reise nach Südafrika zu den Wurzeln des Rock'n'Roll.

Review von

1983 veröffentlichte der kreative Geist von Simon & Garfunkel drei seiner schönsten Stücke. In "Hearts And Bones" beschrieb er eine Reise mit seiner damaligen Freundin Carrie Fisher (die Prinzessin Leia aus den ersten drei "Star Wars"-Filmen, die er noch im selben Jahr heiratete) und machte sich Gedanken um die verschlungenen Pfade der Liebe. In "The Late Great Johnny Ace" begab er sich am Abend der Ermordung John Lennons in eine Bar, erinnerte sich an den Einfluss, den die Beatles auf sein Leben hatten und an den R'n'B-Sänger Ace, der 1954 ebenfalls gewalttätig umgekommen war. In "René And Georgette Magritte With Their Dog After The War" zeichnete er ein zärtliches, surrealistisches Bild des belgischen Malers und seiner Frau, die heimlich Doo Wop-Bands verehrten.

Letzteres endete mit einer opulenten orchestrierten Coda aus der Feder des Komponisten Philipp Glass. Doch trotz weiterer namhafter Mitstreiter, unter anderen Nile Rodgers, Marcus Miller und Al Di Meola, geriet das Album mit dem Titel "Hearts And Bones" zum bis dahin größten Flop in Simons Solokarriere.

Bis 1975 verlief diese in erfolgreichen Bahnen. In jenem Jahr führte Simon mit dem Album "Still Crazy After All These Years" die US-Charts an und erreichte mit der Single "50 Ways To Leave Your Lover" ebenfalls Platz 1. Danach wurde es ruhiger um ihn, bis er sich 1981 wieder mit Art Garfunkel zusammen tat. Das Duo legte einen triumphalen Auftritt im Central Park hin und begab sich anschließend auf Welttour. Aus dem erhofften Reunion-Album wurde schießlich doch nur Simons nächste Solo-Mühe, die sich kaum verkaufte.

Der Songwriter zog sich ernüchtert zurück. Wie sollte es weitergehen? Sollte er überhaupt noch Musik machen? Das Scheitern seiner kurzen Ehe mit Fisher brachte ihn an den Rand der Verzweiflung.

Eine Kassette mit dem Titel "Gumboots: Accordion Jive Hits, Volume II", die er von einer befreundeten Sängerin zugesteckt bekommen hatte, eröffnete ihm 1984 einen neuen Weg. Sie enthielt instrumentale Tracks, die Simon an den Rock'n'Roll der 1950er Jahre erinnerten und zu denen er begann, Gesangslinien zu improvisieren. Neugierig beauftragte er sein Label, mehr über die Urheber herauszufinden.

Bereits Ende der 1960er Jahre hatte Simon ethnische Elemente in seine Musik eingeflochten, wie das unsägliche "El Condor Pasa" auf "Bridge Over Troubled Water" (1970) bewies, auf dem er eine peruanische Melodie verwendete. Diesmal sollte die Reise etwas weiter gehen, nämlich nach Südafrika.

Das war leichter gesagt als getan, schließlich war zu jenem Zeitpunkt noch das Apartheid-Regime an der Macht, Nelson Mandela war Staatsfeind Nummer eins und ein striktes Wirtschaftsembargo bestimmte den Handel mit dem Ausland. Wer als Künstler in Südafrika auftrat, musste mit heftigen Reaktionen seitens der Kollegen und der Fans zuhause rechnen. Ende 1985 hatte eine Allstar-Band mit dem sperrigen Namen Artists United Against Apartheid unter der Führung Little Stevens, dem Gitarristen von Bruce Springsteens E Street Band, einen Hit mit "Sun City". Niemals würden sie in jenem Klein-Las Vegas nördlich der südafrikanischen Großstadt Johannesburg auftreten, beteuerten sie.

Doch Simon wollte ja nicht das politische Regime unterstützen, sondern mit unterdrückten schwarzen Musikern eine Platte aufnehmen. Dafür erntete er zwar Kritik, doch die konnte er wegstecken, denn er war ja auf der Seite des Guten. Auch wenn sich Paul Weller oder Billy Bragg zum 25. Jubiläum der Veröffentlichung 2011 immer noch unversöhnlich zeigten.

Das Ergebnis gab Simon Recht. Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg. Anfang 1985 flog er für zwei Wochen nach Johannesburg, um mit lokalen Bands im Studio zu jammen. Die Bänder, die sie dabei einspielten, nahm er zurück nach New York, wo der eigentliche Songwritingprozess begann. Die zusätzlichen Aufnahmen entstanden in Los Angeles, New York, London und Louisiana. Dazu ließ Simon US-Musiker, aber auch südafrikanische Bands, einfliegen. Ein riesiger Aufwand, der Tontechniker Roy Halee viel Mühe kostete, um aus all dem Material ein konsistentes Ergebnis zu erschaffen.

Eine Vorgehensweise, die viel zu Simons Liebe zum Detail aussagt. Und auch ein Zeugnis abliefert von einer Zeit, in der die großen Labels (in diesem Fall Warner) auch in Künstler, die sie eigentlich längst abgeschrieben hatten, noch einen Haufen Geld steckten. Denn Simon gehörte Mitte der Achtziger längst zum alten Eisen. Mit Madonna oder Prince hatte man viel größere Namen unter Vertrag.

"Every generation throws a hero up the pop charts" erkannte Simon auch gleich im Opener "Boy In The Bubble", in dem er Gewalt und Armut anprangert, aber auch einen gewissen Optimismus über eine bessere Zukunft an den Tag legte. Der treibende Rhythmus und der, passend zum Songtitel, blubbernde Bass stammen von der Session in Johannesburg.

Wie auch die Grundbegleitung des Titeltracks, der gleich mehrere von Simons bekanntesten Zeilen enthält. "The Mississippi delta was shining like a national guitar", lautete die erste, die später auch als Titel für eines seine vielen Best Of-Alben herhalten musste. " There is a girl in New York City / Who calls herself the human trampoline / And sometimes when I'm falling, flying / Or tumbling in turmoil I say / Whoa, so this is what she means", erklärt er etwas später sein Innenleben. Aus dem ursprünglichen Zeile "Driving Through Wasteland" wurde schließlich "Going To Graceland", weil es optimistischer klang und dem Album eine Richtung vorgab.

Denn parallel zur Reise nach Südafrika entwickelte sich auch eine zu den Wurzeln des Rock'n'Roll, zu dessen Akkordreihenfolgen und zum Zucken in den Beinen. Dazu kamen die kreativen Elemente der Musiker aus Südafrika, allen voran Gitarrist Ray Phiri, Bassist Bakithi Kumalo, der Boyoyo Boys Band und Ladysmith Black Mambazo.

Letztere, eine zehnköpfige vokale Band, spielte eine prägende Rolle in den zwei vielleicht schönsten Stücken auf dem Album, "Diamonds On The Soles Of Her Shoes" und dem ergreifenden "Homeless", das ohne Instrumente auskam. Letzteres war eine Zusammenarbeit zwischen Simon und Mambazo-Bandleader Joseph Shabalala, der unter anderem die Melodie eines Zulu-Hochzeitsliedes verwendete. Stimmlich ist das Stück nach wie vor eine außerordentliche Meisterleistung. Wobei Simon mit seinem vergleichsweise dünnen Organ schon fast fehl am Platz wirkt.

Doch verdient es jedes Stück, erwähnt zu werden. In "I Know What I Know" zeichnete Simon ein amüsiertes Bild der Oberflächigkeit New Yorker Partys, mit General M. D. Shirinda And The Gaza Sisters, die im Hintergrund das Geschnatter nachahmten. "Gumboots" war eine Hommage an das Tape, mit dem alles begonnen hatte. "You Can Call Me Al" reißt noch heute die Zuschauer bei Simons Konzerten von der Bestuhlung. "Under African Skies", im Duett mit Linda Ronstadt, bewegte sich hart an der Grenze zum Kitsch, bleibt dennoch ein einfühlsames Lied, das sich mit der Armut der Schwarzen Bevölkerung Südafrikas auseinander setzt.

Im melancholischen "Crazy Love, Vol. II" versucht Simon noch einmal, die Gründe für sein kompliziertes Liebesleben zu verstehen, bevor ihn die musikalische Reise in den Süden der USA führte. "That Was Your Mother" entstand in einem Hinterhofstudio in Louisiana in Begleitung der Zydeco-Band Good Rockin' Dopsie And The Twisters, das abschließende "All Around The World" schrieb und nahm Simon mit Los Lobos in Los Angeles auf.

Litt "Hearts And Bones" unter falschem Timing, kam "Graceland" im August 1986 genau zum richtigen Zeitpunkt heraus, denn 'Weltmusik' war angesagt und Simon mit seinem neuen Album über Nacht deren erfolgreichster Vertreter. Nicht nur er, sondern auch viele der Musiker, die am Projekt beteiligt waren. Allen voran Ladysmith Black Mambazo, die heute noch weltweit als jene Band auftreten, die "Homeless" und "Boy In The Bubble eingesungen hat.

Mit "Graceland" gelang Simon etwas ganz Seltenes: solo ein Album zu produzieren, das qualitativ wie kommerziell an die Glanzzeiten seiner Bandtätigkeit anknüpfte. Auch wenn es in den USA nur für Platz 3 reichte, schoss es weltweit an die Spitze der Charts und wurde zu seiner erfolgreichsten Soloplatte. 1987 erhielt sie den Grammy für das beste Album des Jahres, bei den Brit Awards wurde Simon zum Künstler des Jahres gewählt.

Wiederholen konnte er den Erfolg nicht mehr, aber das hatte er auch nicht mehr nötig. Simon ist dem Prinzip treu geblieben, trotz einer weiteren triumphalen Tour mit Garfunkel 2003/2004 kein neues Studioalbum mehr mit ihm zu veröffentlichen. Auch dafür verdient er höchsten Respekt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Boy In The Bubble
  2. 2. Graceland
  3. 3. I Know What I Know
  4. 4. Gumboots
  5. 5. Diamonds On The Soles Of Her Shoes
  6. 6. You Can Call Me Al
  7. 7. Under African Skies
  8. 8. Homeless
  9. 9. Crazy Love Vol II
  10. 10. That Was Your Mother
  11. 11. All Around The World Or The Myth Of Fingerprints

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