laut.de-Kritik
Derbe Homo-Disco, Rotwein-House und Klassik.
Review von Michael SchuhGrau sind die Haare über die Jahre geworden bei Pet Shop Boys-Sänger Neil Tennant. Bunt sind dagegen noch immer die Kopfbedeckungen seines treuen Keyboard-Sidekicks Chris Lowe. So auch auf dem Cover der nun erschienenen Doppel-CD, die den großen Taschenspielern des Pop mal ganz genau auf die Finger schaut. Da die Briten nun gerade auf 20 Jahre Bandhistorie zurückblicken können, und die "Back To Mine"-Macher selbst bei ihrer 20. Album-Ausgabe angelangt sind, scheint es wenig störende Faktoren im Bezug auf die Kooperation gegeben zu haben.
Vorsorglich schickten die Pet Shop Boys aber noch ihren Haus-Designer beim fremden Label vorbei, damit die Jubiläumsausgabe auch entsprechend stylish in den Handel kommt. Erstmals erscheint die bekannte Compilation als Doppelalbum, was auch ganz im Sinne der Elder Statesmen des Synthie-Pops gewesen sein dürfte, die seit jeher ihre musikalische Verschiedenheit rühmen.
Was immer nur schwammig kolportiert wurde, beweisen nun 27 Songs bzw. Tracks, die vor allem auf das fortgeschrittene Alter der Pet Shop Boys hinweisen. Der Grauhaarige lädt zu einem somnambulen Mentalflow, der mit zunehmender Dauer Lust auf Rotwein macht, während Keyboarder Lowe am liebsten nochmal 20 wäre, und weil das nicht geht, packt er eben seine damaligen Favoriten aus. Zeitsprung: Plus minus 1982. Seine Hits: fast alle Italo Disco-infiziert. Dance the hypnotic tango, gentlemen!
Krönender Superhit im Hi-NRG-Set ist die Flirts-Nummer "Passion" (natürlich extended!), die auch Nachgeborenen dank weit reichendem 80s Revival schonmal in aufgemischter Form untergekommen sein dürfte. Als Einstieg wählt Lowe mit Roberto Zanettis Italo-Charthit "Don't Cry Tonight" eine Nummer, die der Savage-Kopf einst in fünf Minuten schrieb, und die in Sachen Cheesyness alles Kommende in den Schatten stellt. Mr. Flagios Beitrag zeigt, dass die Console-Roboterstimme schon 1983 poppig fiepte, während der Oktavbass des Klein And MBO-Songs "Dirty Talk" heute sehr lieblich klingt, Mitte der 80er aber noch die Prä-House-Discos in New York und Chicago mächtig durcheinander wirbelte.
Unterbrochen wird die zeitweise derbe Homo-Disco (Matia Bazaar geht einfach gar nicht) mit dem zeitnahen Dancefloor-Kracher "Never Be Alone" (2004) aus dem Gigolo-Stall, einem mächtigen Remix-Schieber des gleichnamigen Simian-Hits. Ohne Queen ("Show Must Go On") und Dusty Springfield will sich aber auch Lowe keine Partynacht vorstellen. Nun ja.
Auftritt Tennant. Schluss mit Stroboskop. Ein wabernder Klangteppich führt uns bei der Hand in wohlige Traumlandschaften, Deep House entführt den Geist und die Sinne. Sachte Piano-Sequenzen (Budd/Garcia/Lentz) leiten in ein Ambient-Stück über, bevor in klassischer Manier endlich auch Geigen in den Vordergrund treten (Martynov). Hin zum Song pendelt der bilinguale Tennant mit dem Soft Pop-Beitrag des Franzosen Etienne Daho ("La Baie"), über dessen Soundkostüm man auch Pet Shop Boys-Lyrics hätte legen können. Gegen Ende wird es noch einmal orchesterlastig (Dusty Springfield zum zweiten), bevor sogar Neu!-Experimental-Freak und Mitbegründer der elektronischen Musik, Hans-Joachim Roedelius, mit einer super-relaxten Piano-Elegie in Erscheinung tritt.
Mit einem Orchesterstück für Streicher des englischen Komponisten Edward Elgar (1857-1934) und dem molllastigen Kammermusikbeitrag des britischen Jazzers John Surman beweist Neil Tennant nachdrücklich und geschmackvoll, dass seine Hörgewohnheiten juvenile Pop-Gefilde längst überschritten haben. Wie es sich eben für Musiker gehört, die demnächst Sergej Eisensteins Stummfilm-Klassiker "Panzerkreuzer Potemkin" live und auf Platte vertonen.
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