laut.de-Kritik
Kaputte Sounds und gekränkte Vocals als Sinnbild der Selbstzerstörung.
Review von Toni HennigDas Wissen um die eigene Sterblichkeit, somatischer Schmerz als Folge einer Notoperation und zuletzt auf "Contact" das Heraustreten aus der Körperlichkeit in die verschiedenen Stadien der Trance: Margaret Chardiet alias Pharmakon hat seit Ende der Nullerjahre mit ihrer Mischung aus experimentierfreudigem Death-Industrial und wüsten Power Electronic-Ausbrüchen den Hörer mit ihren äußeren und inneren Abgründen konfrontiert. Nun nutzt sie auf "Devour" die "Symbolik und Sprache" des "Selbst-Kannibalismus als Allegorie für die selbstzerstörerische Natur des Menschen" und fügt somit ihrer radikalen Kunst eine gesellschaftskritische Note hinzu.
Aber auch losgelöst vom konzeptuellen Überbau setzt sich die Musik der 29-jährigen New Yorkerin in ihrer unmittelbaren Körperlichkeit weiterhin über die Hörgewohnheiten hinweg. Ekel oder Faszination: Dazwischen gibt es nach wie vor nichts. Dass Chardiet auf dem schaurig schönen Cover in selbstzerfleischender Manier eine Totenmaske anbeißt, tut da nur sein Übriges. Subtilität war ohnehin nie ihre Stärke.
So schleift in "Homeostasis" Metall an Metall, trifft Kreissäge auf Kreissäge, während repetitive Maschinen-Klänge in Anlehnung an frühe Suicide so etwas wie Groove andeuten: Etwas, das man von Pharmakon wohl nicht vermutet hätte. Der lädt allerdings weniger zum Tanzen ein, sondern erzeugt vielmehr eine modrige Stimmung, die sie mit ihrer verzerrten und gedoppelten Stimme verstärkt. Dass sie zum ersten Mal überhaupt eine Platte unter Live-Bedingungen im Studio aufgenommen hat, spürt man hier deutlich, denn gerade durch die analog anmutende und kaputte Sound-Ästhetik, die sich durch das gesamte Werk zieht, erscheinen ihre gekränkten Vocals so nahbar wie noch nie.
Da bilden die verzerrte Elektronik und das metallische Schleifen in "Spit It Out" nur die nächste Ruhe vor dem Sturm. Der lässt nicht lange auf sich warten, wenn modulierende Störgeräusche und ein Dauerfiepen, das sich am ehesten noch mit dem Klang eines Zahnarztbohrers vergleichen lässt, für Angst und Beklemmung sorgen. Zu mehr Behaglichkeit trägt das heisere Gekeife der New Yorkerin auch nicht gerade bei. Am Schluss stehen die Distortion-Regler maximal auf Anschlag.
Ein Glück, dass sich mitten im Herzen des Albums mit "Self-Regulating System" die bis dato eingängigste Nummer Pharmakons befindet. Sicherlich verleitet sie nicht unbedingt zu ausgelassener Fröhlichkeit, wenn man sich zu schleppenden Maschinen-Sounds in einer trostlosen, leeren Fabrikhalle wähnt. Wenn jedoch die modulierende Elektronik immer wieder kurz eine Melodie andeutet, entschädigt das dann doch für die nervliche Zerreißprobe zuvor. Dazu wütet sich Chardiet wie eine Rasende durch den Track, den sie mit ohrenbetäubenden Feedbacks und unberechenbaren Wut-Eskapaden zum Schluss in alle Einzelteile zerschießt, so dass jegliche Struktur in destruktivem Chaos mündet.
Das beherrscht auch "Deprivation", das industrielle Klangschleifen und Rückkopplungen durchziehen. Dabei geht das geschundene Organ der Endzwanzigerin alle paar Sekunden unter der Last der Maschinen unter und taucht wieder auf. Da bieten die hypnotischen elektronischen Sequenzen, die "Pristine Panic/Cheek By Jowl" zum Beginn und zum Schluss in seiner Gestörtheit zusammenhalten, schon eher etwas zum Festkrallen. Dazwischen knarzt, scheppert und brummt die Elektronik, als gäbe es kein Morgen, durchkreuzt von paranoiden Stimmen, während die US-Amerikanerin mit verzweifelten Kapriolen tiefe, klaffende Wunden reißt. Somit begibt sie sich in die dunkelsten Winkel der Psyche.
Am Ende bleibt ein Album, mit dem sie ihre Musik nicht nur um zusätzliche Schattierungen ergänzt, sondern in eine neue, organischere Richtung verschiebt. Das dürfte sicherlich nicht jedem schmecken, aber irgendwelche Erwartungshaltungen zu bedienen, braucht sie ohnehin nicht – und das ist auch gut so.
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Eines der herausragenden Alben 2019 neben "A Gaze Among Them" und "Proto".