laut.de-Kritik
Zu indie für den verdienten Durchbruch.
Review von Dennis RiegerKeine Veröffentlichung Piles klingt wie die vorherige – auf diese Regel ist Verlass. Insofern erwartete ich vor dem Abspielen des ersten Songs auf "Hot Air Balloon", der ersten EP der Bostoner Band, gar nicht, dass dieser den Kurs des im vergangenen Jahr erschienenen, von abrupten Harmoniewechseln geprägten Albums "All Fiction" weiterführt.
Tatsächlich bleibt alles anders im Hause Pile. Damit, dass sich "Scaling Walls" als dermaßen schöner und eingängiger Ohrenschmeichler entpuppt, war angesichts der bisherigen Diskografie der Band allerdings nicht zu rechnen. Einprägsame Gitarrenakkorde, treibende Drums und höchst atmosphärische, angenehm dezente Synthies bilden das Fundament, das Rick Maguire mit kryptischen Zeilen veredelt. Der Refrain – ja, es gibt einen Refrain, den man auf "All Fiction" noch songübergreifend mit der Lupe suchen musste – ist zum Niederknien schön, die Strophen sind nicht minder angenehm.
Nach ihrem wohl sperrigsten Album servieren uns Pile – anders als es das "KUNST!" schreiende Aquarellcover vermuten lässt – mit die eingängigste Veröffentlichung ihrer Karriere. Ähneln Pile also nun auf EP-Länge den frühen Coldplay in charmanter Indie- anstatt Hochglanzproduktion und mit besseren Lyrics? Nein, das nicht, wie die folgenden vier Songs zeigen. Hörenswert und vergleichsweise eingängig bleibt es dennoch.
In der verträumten Halbballade "The Birds Attacked My Hot Air Balloon" beweist Rick Maguire, dass er mit Synthies nicht nur Klanglandschaften außerhalb klassischer Songstrukturen schaffen kann wie auf dem Ambientalbum "In the Corners of a Sphere-Filled Room". Auch in gesangsbasierten Tracks glänzt der Tausendsassa mit dem Einsatz geschmackvoller Synthies.
Das überrascht insofern, als Maguire auf den ersten sieben Alben seiner Band jegliche elektronischen Klänge mied. In rein akustischer Hinsicht erinnert "The Birds Attacked My Hot Air Balloon" weniger an jüngere Songs anderer Indieheroen wie My Morning Jacket oder The Decemberists, die als reine (Folk)Rockbands begannen, mit den Jahren die Synthies für sich entdeckten und sie mitunter allzu aufdringlich nutzten, als an die Electronica-Götter Boards of Canada. Und worum geht's im Song? Nun ja, der Titel ist durchaus wörtlich zu nehmen. Doch Maguire nimmt den Vögeln, daran lässt sein entspannter Gesang keinen Zweifel, ihr frevles Werk nicht übel: "These skies belong to them. / So I begin my descent." Sind die Vögel eine Metapher? Oder hat dieser Text einen ... ähm ... psychedelischen Hintergrund? Egal! Wenn die Musik dermaßen überzeugt, darf die Bedeutung der durchweg introspektiven Lyrics auch unklar bleiben. Die Herren Rick Maguire, Alex Molini und Kris Kuss spielen die Atmosphäre-Karte, ehe Maguire an der Gitarre und Kuss an den Drums uns noch – ohnehin eine Spezialität der Band – ein schönes instrumentales Outro kredenzen. Ebenso wie der Opener einer der bis dato besten Songs der Band.
"Only For A Reminder" und "Exits Blocked" halten das Niveau nicht ganz, aber auch hier regieren die Synthies und die lyrische Introspektion. Im erstgenannten Song setzen nach zwei Minuten unvermittelt (na ja, für alle, die die Diskografie der Band kennen, nicht wirklich unvermittelt ...) Drums und Gitarre ein, was sich aber ein wenig konstruiert anhört. Kris Kuss' exquisites Drumming hievt "Exits Blocked" auf ein höheres Level als den vorherigen Track.
"You Get To Decide" macht zum Abschluss glücklicherweise qualitativ wieder da weiter, wo "The Birds Attacked My Hot Air Balloon" aufhörte. Dezente Synthies und Kuss an den Drums bauen Atmosphäre auf, ehe Maguire mit seinem angenehm traurigen Singsang einsetzt. Nach etwas mehr als zwei Minuten zieht Kuss die Geschwindigkeit an und Maguire lässt seine E-Gitarre kurz aufheulen, um dann wieder den gemächlich vor sich hin blubbernden Synthies den Weg freizuräumen. So baut man Spannung auf.
Die keine Genregrenzen fürchtenden Pile scheinen sich, so glaubt man zu diesem Zeitpunkt noch, am prototypischen Aufbau eines Post-Rock-Songs zu orientieren. Und man freut sich auf den erwarteten großen finalen Ausbruch – erst recht im Wissen um eine bereits erwähnte große Stärke der Band. Und der instrumentelle Ausbruch kommt auch nach etwas mehr als drei Minuten – um bereits nach 23 Sekunden ausgeblendet zu werden. Maguire zupft nach dem unerwarteten Fadeout noch zwei Saiten, dann ist Schluss. Die Band hätte einen Alltime Favorite für ihre Konzerte schaffen können, hätte nur noch ein Gitarrensolo oder auch nur krachende Drums benötigt – und nimmt die Chance nicht wahr. Ein bewusstes Statement im Sinne von "Wir sind unabhängig im besten Sinne und bedienen weiterhin keine Erwartungen"? Jedenfalls eine verpasste Chance.
Statement genug ist "Hot Air Balloon", nicht nur eine der entspanntesten, sondern auch eine der besten Veröffentlichungen Piles. Rick Maguire und seine Mitstreiter beweisen, dass sie den Weg der frühen Coldplay fortsetzen, jederzeit auf Synthiepop umsteigen oder dem bereits beigesetzten Post-Rock-Genre neues Leben einhauchen könnten – und all das auf sehr hohem Niveau. Aber Genregrenzen, auch das beweist die EP einmal mehr, sind Pile fremd. Sie bleiben zu indie für den längst verdienten Durchbruch – offenbar ganz bewusst. Irgendwie bewundernswert.
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