laut.de-Kritik

Das therapeutische Yin zum eskapistischen Yang.

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Denkt man an EDM, evoziert dies fast unweigerlich Bilder von Mucki-Bros in Tank-Tops und Mädels in Blumenketten, die high vom Leben auf Festivals wie dem Tomorrowland die Hälfte ihres Jahresgehalts verprassen, um dem Who Is Who der Szene beim Knöpfchendrehen zuzugucken und alle paar Minuten, wenn der Beat droppt, so richtig auszurasten. Dass es in den Köpfen hinter den Mischpulten jedoch nicht immer so ausgelassen und rosig aussieht, vor allem wenn die Lichter ausgehen, wissen wir spätestens seit Aviciis Tod 2018.

Tim Bergling war Anfang Zwanzig als er das erste Mal auf jenem Tomorrowland spielte. Gleiches gilt für Porter Robinson. Und ähnlich wie der Schwede ging auch Robinson an der schieren Aufmerksamkeit, die ihm schon in jungen Jahren entgegenschlug, kaputt. Nach dem bahnbrechenden Erfolg seines Debüts "Worlds", erkrankte der DJ aus North Carolina an einer Depression und zog sich in der Folge mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück. "I felt convinced that I wouldn’t be able to ever make music again", erzählte er dem britischen NME. So dauerte es sieben Jahre bis Robinson imstande war, ein weiteres Album zu veröffentlichen. Sieben Jahre, in denen Robinson gegen die Krankheit kämpfte und - glaubt man dem Bild, dass er auf "Nuture" zeichnet- gewann.

Die Platte als EDM zu bezeichnen, ist sicherlich nicht falsch. Man findet die Genre-typischen Trademarks, allen voran die ikonischen Drops, wenn man sie sucht. Nur in meist so abgeschwächter Form, dass - besonders im Vergleich mit Robinsons Debüt - Synth- oder Dream-Pop vielleicht ein passenderes Label wäre. Mit seinen ineinander strudelnden Klängen, manipulierten Vocals und Key-Changes erinnert das Album bisweilen gar ein wenig an The 1975 oder Bon Ivers "22, A Million". Wo "Worlds" laut, epochal und außerweltlich war, ist "Nuture" still, detailverliebt und mit emotionaler Schlagkraft im Hier und Jetzt verankert. Das therapeutische Yin zum eskapistischen Yang sozusagen.

Denn das ist "Nuture" in allererster Linie: Therapie. Schon im Chorus von "Look At The Sky" heißt es: "Look at the sky, I'm still here / I'll be alive next year". Die eigene mentale Gesundheit und die Wertschätzung der eigenen Mortalität sind die dominantesten Leitmotive der LP. Doch wie das Zitat nahelegt, kommt "Nurture" mehr einem triumphalen Siegeszug als einem Abschiedsbrief gleich. Ein Sprung aus dem Abgrund zurück in den Normalzustand.

Und so klingt das Album auch. Wie ein Sprint über eine endlose Blumenwiese, wie eine Fahrt im Cabrio im Hochsommer, wie ein Steptanz im Regen. Kurzum: "Nuture" klingt nach Lebendigsein. Inspiration zieht Robinson dabei unter anderem aus der Natur. Die Natur stehe synonym für diesen Normalzustand, der so lange so unerreichbar für ihn schien. "As things should be", wie Robinson sagt. Vor allem die drei instrumentalen Songs der LP spiegeln dies wider. So zeichnet "Wind Tempos" Bilder eines entspannt vor sich hin plätschernden Baches, auf "Do-Re-Mi-Fa-So-La-Ti-Do" zwitschern die Synths wie Goldkehlchen, und die zweite Hälfte von "Dullscythe" lässt nach einem chaotischen Unwetter sinngemäß die Sonne erstrahlen.

Ein weiterer starker und kreativer Impuls kommt aus Fernost. Robinsons Liebe für Japan ist kein Geheimnis, aber noch nie in seiner Diskographie waren die Einflüsse von J-Pop oder der japanischen Elektro-Szene so offensichtlich wie auf "Nuture". Gepaart mit geloopten Samples und gepitchten Vocals ergibt dies beispielsweise auf "Musician" einen unwiderstehlich süßen Pop-Hybriden aus Ost und West. "It's calling", besingt Robinson seine Berufung da mit neugefunden Enthusiasmus, während er im Anime-Musikvideo auf Rollerblades vor einem explodierenden Hochhaus flieht. "Isn't it time you get a job?", ruft ihm seine Mutter hinterher. Die Antwort: "Don't you feel what I'm feeling?".

Trotz all der Euphorie, die so viele der Songs auf "Nuture" transportieren, schwingt gerade in der zweiten Hälfte oft eine bittersüße Melancholie mit, die etwa auf dem Liebeslied "Sweet Time" einer langen und innigen Umarmung gleichkommt. "So take a long time / 'Cause, oh, the world is lucky to be your home, I know", singt er da, aus Angst, seine Partnerin irgendwann alleine zurückzulassen. Weniger später formuliert er es ein wenig direkter: "But since I met you / I don't wanna die no more".

Die Akustikballade "Blossom" schlägt kurz darauf noch ruhigere Töne an und bildet einen markanten Kontrast zu "Something Comforting" und "Unfold", die mit grandiosen Drops und mehrfach gelayerten Sound-Collagen wohl am meisten an Robinsons Debüt erinnern. Doch auch hier sucht man dessen Eskapismus in ferne Videospielwelten vergebens. "Something Comforting" erinnert stattdessen an die düsterste Zeit in der Karriere des Amerikaners. "Getting made you want more / And hoping made you hurt more / Oh, there must be something wrong with me", singt er da niedergeschlagen, ehe er auf die Welle aus fluffigen Synths und fulminanten Drums aufspringt, die im Chorus über den Song hinweg schwappen.

Am Ende von "Nuture" macht sich ein Gefühl der Vertrautheit breit. Als wäre Porter Robinson ein Kindheitsfreund, zu dem man nach fast eine Dekade wieder Kontakt aufnimmt und sich sofort wieder wie damals fühlt. Man tauscht Geschichten aus, lacht, weint, nimmt sich in den Arm. "It will all be okay in the end": Mit den abschließenden Worten von "Mirror" legt man sich gemeinsam ins Blumenfeld, schließt die Augen, und für diesen einen Moment ist die Welt wieder im Gleichgewicht.

Trackliste

  1. 1. Lifelike
  2. 2. Look At The Sky
  3. 3. Get Your Wish
  4. 4. Wind Tempos
  5. 5. Musician
  6. 6. Do-Re-Mi-Fa-So-La-Ti-Do
  7. 7. Mother
  8. 8. Dullscythe
  9. 9. Sweet Time
  10. 10. Mirror
  11. 11. Something Comforting
  12. 12. Blossom
  13. 13. Unfold
  14. 14. Trying To Feel Alive

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