laut.de-Kritik
Zwölf Kilometer vor Russland gibt's Theater-Soul mit Thrill.
Review von Philipp Kause"I know you got soul", ist ein geflügeltes Wort James Browns, aus einem Song, den er mit Bobby Byrd schrieb. Woher weiß man, ob etwas Soul ist und ob man Soul "hat"? Spätestens seit mir ein großer Radiosender mal in einer Soul-Sendung Coldplay als Blue Note- und Offbeat-Musik verkaufte und beim Nachhaken auf Meinungsumfragen verwies, stelle ich mir die Frage immer wieder. Wo die Grenzen des Authentischen verlaufen, ist schwer zu sagen. Ob man dazu in Atlanta, der Bronx, in Chicago, Detroit, Philly aufgewachsen sein muss? Heute denken viele eher an Amy Winehouse oder Adele. Dennoch lenkt die Platte "Live In Concert" von Rita Ray mal nicht den Blick auf ihre Soul-Ersatzheimat London, sondern auf Estland.
Das mag jetzt schon deswegen ein bisschen frappieren, weil wir das Baltikum nicht so wirklich auf der Karte haben, wenn es um den nächsten großen Act am Pop-Firmament geht. Rita Ray, 28, aus Põlva, zwölf Kilometer westlich der NATO-Außengrenze, die "hat", glaube ich, den Soul. Obwohl ich da oft skeptisch bin, Adele eher als Verräterin dieser Musik sehe. Rita wuchs mit Etta James, Whitney Houston, Led Zeppelin, The Who auf, so gesehen nicht als Nerd sozialisiert. Als ich sie zum Interview treffe, taucht sie aber nach ein paar Fragen in ein neun Minuten währendes Lob auf eine Aretha Franklin-Live-Platte ab.
Der Aspekt des Live-Spielens ist Rita nicht nur bei der Queen des Genres ganz wichtig, sondern verweist auch darauf, dass ihr eigenes Bandcamp-Album "Live In Concert" ihr ein Herzensanliegen ist. "A Life Of Its Own" und "Old Love Will Rust", ihre beiden bisherigen Studioalben, legte die Vertriebsfirma Broken Silence frisch für den deutschen Markt auf: Ab 17. Januar sind die Nachpressungen nicht mehr nur als teurer Auslands-Import erhältlich. "Live In Concert" gibt es hingegen nur digital, ein Best-Of aus den Songs beider Platten. Im Konzert veredelt der Faktor 'Timing während der Aufführung' sie, hinzu kommt die Akustik der Locations in den beiden größten estnischen Städten, Tartu und Tallinn.
Der Thrill, das Publikum direkt zu verzaubern, spornt die Künstlerin zur Höchstleistung an, und in diesem besonderen Fall stellt sie sich der besonderen Herausforderung, die Stücke auf ein Orchester zu übertragen. Es setzt sich dieses Schwebende durch, das sich manchmal einpendelt, wenn es beim Spielen von selbst läuft, die Rhythmik und Harmonien und eben der Soul und seine emotionale Tiefe einen treiben. Dabei entstehen unglaubliche Momente im viertelstündigen Drama "Ms. Steal-Your-Man, Pt.1" und "Pt. 2" von der Qualität eines "Theme From Shaft". Momente, in denen die Bögen der Streicher in pianissimo-Passagen die Ohren kitzeln. Sie erzeugen da ungefähr das Gefühl, das bei einer Verwechslungskomödie entsteht, wenn eine Figur auf Samtpfoten um die anderen herum schleicht und nicht auffallen will, bevor ein Schwindel auffliegt (man kennt entsprechende Soundtrack-Momente solcher Filme).
Die funkrockigen Gitarren und der Trance-Gesang Ritas, in dem sie irgendwann nur noch minutenlang "aaaa oh-aaaa" trällert, haben einen psychedelischen Surrealismus. Die Katharsis eines Theaterstücks, hier brandet sie im musikalischen Format auf.
Sie ist, auch wenn das Cover etwas anderes suggeriert, nicht in erster Linie Pianistin. Eher wächst ihr die Funktion eines Mädchens für alles zu: im Studio ihre eigene Background-Sängerin, Gelegenheits-Dirigentin in der Studio-Fassung von "Please Wait For Me" für ein Streicher-Ensemble, Percussionistin, Produzentin. Sie komponiert ihre Lieder, textet, hat Jazz-Gesang studiert. Für "Live In Concert" schrieb sie die Noten für 24 Streich-Instrumente, darunter zwei Kontrabässe, und begleitet sich selbst in "Please Wait For Me", "Old Love Won't Rust" und "Fool For Loving You" am Klavier.
Die "magische heilende Wirkung wie von einem Medikament" schreibt die Estin manchen Aretha-Aufnahmen zu. Da liegt die Messlatte hoch, sie bezieht sich auf Einspielungen von Gospels und Spirituals. Mit selbst getexteten Liebesliedern einen so außerordentlichen Effekt auszulösen, das mag schon schwieriger sein. Etwas Sakrales, Kostbares hat das behutsame, aber auch leidenschaftliche "Please Wait For Me" trotzdem, in der Tradition der leisen Töne einer Roberta Flack.
"Old Love Won't Rust" könnte ebenfalls in den 1970ern entstanden sein. Wenn man nach konkreten Vorbildern sucht, könnte es gut sein, dass es seine Energie aus der rhythmischen Elastizität Franklins bezieht und aus der 'ich-bin-ein-guter-Freund-an-deinem-Ohr'-Intimität von Bill Withers. Rita bebt im Gesang, ihr Studium hat sich gelohnt. In Abgrenzung zu europäischen Impulsgeberinnen des Genres wie z.B. Izo FitzRoy, knöpft sich Rita, die estnisch Kristi Raias heißt, gerne die soften und süßen Seiten des Soul vor, was einem bei "Needless To Say" genauso zu viel werden kann wie das Ergriffensein in "Fool For Loving You".
Umso überraschender, dass der "Disco Stu" samt "Extended Ending" für einen luftig pulsierenden Rausschmeißer inklusive langem Drum-Solo und funky Bassline sorgt. Bis das Konzert mit einem langen Schrei endet. Musikliebhaberin Rita "hat" Soul. I know it. Ob sie James Browns Ansprüchen genügen würde, ist fraglich, aber sie hat einiges aus diesem Genre tief verinnerlicht und kann es vortrefflich auf die Bühne bringen. Bleibt noch die Frage, was ihr liebstes Amy Winehouse-Lied ist. Das ist ein unscheinbares, eignet sich aber nach dem Hören von Rita Rays monumentalem "Live In Concert", um wieder runter zu kommen: "He Can Only Hold Her".
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