laut.de-Kritik
Dank Bush und Merkel wieder in aller Munde: Micks groovy Seniorenclub.
Review von Michael SchuhEs sind vor allem zwei Namen, die zur Veröffentlichung des neuen Rolling Stones-Albums durch die Luft schwirren: George W. Bush und Angela Merkel. Schlimmer könnten die Alpträume des seit eh und je unpolitischen Stones-Gitarristen Keith Richards wohl kaum aussehen. Doch da sich Mick Jagger gegen ihn durchsetzte, ist mit der farblosen Nummer "Sweet Neo Con", was in etwa soviel heißt wie 'Mein lieber Neo-Konservativer', nun ein Song auf dem Album, der klar Stellung zum amerikanischen Präsidenten bezieht. Zumindest bis zum kleinlauten Veto des Sängers.
In Deutschland spricht man seit dem CDU-Wahlkampfstart außerdem wieder über "Angie", diesen gnadenlosen Rolling Stones-Hit aus dem Jahr 1973, als Angela Merkel gerade ihr Physikstudium in Leipzig begann und auf Erstsemesterpartys höchstens zur Stern Combo Meißen schwofte. Heute bedient sie sich jedoch gerne der "Monotonie des Yeah Yeah Yeah" (Walter Ulbricht), schließlich will sie gesamtdeutsche Kanzlerin werden.
Konservatismus, dafür stehen die Herren Jagger/Richards/Wood/Watts in ihrem Gewerbe wie keine zweiten. Will man eine Figur des politischen Betriebs zum Vergleich heranziehen, wäre Sir Mick Jagger, obschon er Prinz Charles 2003 in Turnschuhen gegenüber trat, doch eher eine Art Helmut Kohl des Rock'n'Roll: Er ist länger dabei, als man als Außenstehender denken kann, sitzt sämtliche zeitgeistigen Trends und Moden stoisch aus, und die Kasse stimmt. Dass irgendwann der große Knall kommt und den Stones sämtliche Errungenschaften um die Ohren fliegen, ist hingegen nicht zu erwarten. Dafür haben sie nun den selten dämlichen Titel "A Bigger Bang" erdacht; wohl wissend, dass "Satisfaction" als Prototyp des Rock-Urknalls niemals abgelöst wird. Schließlich bezieht sich "A Bigger Bang" auch auf die Theorien zur Entstehung des Universums. Aha.
Nach acht Jahren ohne Studioalbum kehren die Riff-Rowdys a. D. mit satten sechzehn Songs zurück, von denen die Hälfte mal wieder nicht nötig gewesen wäre. Kennt man ja von "Bridges To Babylon" und zuvor "Voodoo Lounge". Zugegeben: Wenig ist langweiliger, als ein Verriss eines neuen Rolling Stones-Albums, aber eines eben doch: ein neues Rolling Stones-Album. Hört doch einfach selbst rein in Songs wie "Biggest Mistake" oder "She Saw Me Coming". Hier geselliges Alte-Herren-Midtempo, dort betagte Riffkombinationen mit dem noch älteren Knurrfuchs Jagger.
Schon vor drei Wochen, als die Redaktion das neue Werk stilecht in einer Strechlimo vorgeführt bekam, ertappte ich mich bei Song Nummer fünf, gelangweilt aus dem Fenster bzw. Richtung Minibar zu starren. Dabei hatte ich bis dahin schon drei Highlights hinter mir: zunächst der giftige Rock'n'Roll-Opener "Rough Justice", in dem sich die Band, scheinbar angestachelt von der Bewunderung junger Bands von den White Stripes bis hin zu Mando Diao, mal wieder so richtig gehen lässt. Jagger singt von "chicken" und von "animal attraction", ist also ganz in seinem Element, und er nimmt sogar das Wort "cock" in den Mund, Na, na, Großväterchen! Später müssen auch noch "breasts" und "tits" raus. Ein "Parental Advisory"-Sticker auf der CD wäre wirklich mal ein schöner Spaß gewesen.
Warum man sich vor neuen Stones-Alben so fürchtet, belegt das langweilige "Let Me Down Slow", bevor mit "It Won't Take Long" ein weiteres Highlight folgt. Abwechslungsreiche Strophe, schöne Gitarren-Fills von Keith und ein umarmender, mehrstimmiger Refrain. Derart im Groove, wippe ich auch zum jovialen Funk von "Rain Fall Down", man fühlt sich irgendwie wohl inmitten dieser Horde beschwipster Senioren. Dann besagter Song Nummer fünf ... wohl dem, der eine spannende Nachbarschaft unter seinem Fenster vorfindet. Die Ballade "Streets Of Love" verärgert vor allem deshalb, weil es eine so unverschämt vorhersehbare wie kreuzlangweilige Stones-Single ist. Zwar kann dieses Malheur nur Bands passieren, die bereits Großes vollbracht haben - selbst Oasis näherten sich mit "Stop Crying Your Heart Out" seinerzeit bedenklich dem Burnout-Syndrom - helfen tut's nix.
Überraschen können die Stones noch mal mit "Back Of My Hand", das mit Bluesharp und Slidegitarre zwar nicht entschieden anders klingt als "Little Red Rooster", aber wer immer nach den guten alten Zeiten schreit (tun das nicht alle?), darf hier in der Zeitmaschine Platz nehmen. Ächzendes, knochentrockenes Blues-Leiden steht Jagger auch im Alter ausgezeichnet. Tja, und dann folgt die altbekannte Durststrecke mit seltsam nichtssagenden Songs (Ausnahme: die abgehangene Ballade "Laugh I Nearly Died"), bis "Look What The Cat Dragged In", eine Mischung aus "Sesamstraßen"-Trailer und INXS-Riff, wieder aufhorchen lässt.
"Driving Too Fast" fährt noch mal mächtig in die aufgeweichten Glieder, und mit dem monotonen Harp-Klotz "Infamy" bringt sogar Richards eine ordentliche Nummer zu Papier. Wie immer gibt es also ein paar Dinge bei den Stones zu entdecken, sofern man Lust zur Suche aufbringt. Ansonsten: Trademark-Sound, wohin das Ohr reicht. Und um auch "Exile On Main Street" noch in der Review unterzubringen: "A Bigger Bang" hat die längste Spieldauer in der Stones-Historie seit dem Album-Klassiker von 1972. Toll, was? Hoffen wir, dass Paul McCartney nicht auf die Idee kommt, seine demnächst erscheinendes Soloscheibe müsse länger sein als das "White Album" ...
7 Kommentare, davon 6 auf Unterseiten
Nun ist die Scheibe volljährig geworden. Auch 18 Jahre später ist dem Review nichts hinzuzufügen (außer dass die lärmige, aber dennoch irgendwie zahnlose Produktion recht schlecht gealtert ist). Voodoo Lounge & Bridges... sind soundmäßig deutlich frischer.