laut.de-Kritik
Katharsis, Kratzen, Glut, Gemetzel, Gleichgewicht.
Review von Philipp KauseGeradliniger Rock'n'Roll muss aufs Ganze gehen. Er hat zu fesseln und braucht Widerhaken , bestenfalls wie ein "Rusty Razor", eine rostige Klinge. Ein perfekter Song, der rock'n'rollt, kocht zur Mitte hin bis zum Siedepunkt auf. Damit muss man umgehen können, manche sogar als Nachbarn eines Clubs, dessen Wände manchmal beben. Genau da stellt sich die Frage: "Can Ya Handle The Heat?"
Samantha Fish aus Kansas City steht exemplarisch für die Sorte Musikerin, die man sich niemals unplugged vorstellen kann. Das Anstöpseln von Elektrizität ist ihre Berufsgrundlage. Auf "Paper Doll" (Pappfigur, Puppe aus Papier) stellt sie die entsprechenden Kompetenzen wieder unter Beweis. Sie tischt scheinbar ein Best Of-Album auf, aber es besteht komplett aus frischen, nigelnagelneuen Tracks. Deren Qualität ist jedenfalls eindeutig "Best Of". Eine pfiffige Balance aus Abwechslungsreichtum und aus-einem-Guss-Charakter macht das Ganze gut zugänglich.
"Sweet Southern Sounds" entspricht zunächst dem gehobenen Standard, den man anbieten muss, um mit Bonamassa Schritt zu halten. Hier holt Fish ihre Cigarbox heraus, schindet und kratzt sie, quält sie zu schrillen Explosiv-Tönen kurz vorm Ampflier-Kurzschluss. Mit jeder Minute steigert sich der Track von der Keyboard-Ballade, über Memphis-Soul, Gegniedel-Schaulaufen, weiter in pure Katharsis und in der letzten Minute dann bis zu einem beschleunigten Meilenstein, der sich gar nicht mehr fängt. Das Finale des mehraktigen Dramas bügelt einen unfassbar nieder, so viel Energie knüppelt da aus den Lautsprechern. Hier taucht auf einmal Anders Osborne als Komponist wieder auf, schwedischer Alternative-Rocker, der 1996 mal für sein drittes Album von Sony gehypet wurde, danach im Blues-Underground verschwand.
"Fortune Teller" glänzt als pathetische und durchdringende Rockballade über unerwiderte Liebe mit einem vorschnellen Ende an der Hälfte und einem zweiten Teil mit Stratocaster-Galopp und einem ziemlich stoned klingenden Sprechgesang. Das Gesamt-Erscheinungsbild erinnert in den Klangfarben ein bisschen an ein Gemetzel Led Zeppelins, rutscht am Ende Richtung Wüstenrock. "Off In The Blue" bringt die Folkpop-Zerbrechlichkeit Heather Novas mit, allerdings nur im Gesang. Denn an der Gitarre bricht und bröckelt gar nichts, der Bass nimmt den Hörer bei der Hand und zieht ihn wabernd, glibbernd, aber immer standfest durch den Song. Und auch alles, was an Becken, Kickdrum oder sonst an Trommel-Feinarbeit die Vocals unterlegt, geizt nicht an Klasse. Insgesamt ein Premium-Tune!
"Lose You" ist ein funky Stomper mit sexy Vocals und einem Echo-umwaberten surrealen Background-Chor, das eingangs genannte "Can Ya Handle The Heat?" der massivste Einheizer, der mir seit Jahren unterkam - traumhaft und perfekt produziert. "I'm Done Runnin'" reißt als perkussiv polterndes Stück Glut alles um sich herum ein, mit einem psychedelischen Gitarren-Solo ab Minute 1:37, das man tausend Mal hintereinander hören sollte. "Don't Say It" verarbeitet Gospel und plädiert gegen Lüge, für die Wahrheit. Jedes Repetieren der gleichen Zeile zieht den Hörer tiefer in den Harmonie-Strudel von Fishs Komposition.
Der Titelsong "Paper Doll" räumt mit der alten Geschichte auf, dass Samantha ein bisschen wie Marilyn Monroe aussehe. Dazu muss man wissen, dass Fotos das eine sind, Samantha aber bei aller Zierlichkeit andererseits groß ist und mit ihrem selbstbewussten Auftreten schnell einen Raum füllt. Der Stampf-Hardblueser hämmert uns folgende Zeilen ein: "Like a see-through smile stamped on my face, you see what you want / Molded to a mirror of your distaste, for brokenhearted blondes / You wanted two dimensions, dirty and devout." Lassen wir das in seiner Unübersetzbarkeit so stehen, es ist toll getextet.
Zwischen Kläffen mit Nachdruck in tiefer und rauer Tonlage bei "Paper Doll" und dem Sopran im wunderschönen "Don't Say It", gibt es eine wahlweise zärtliche Mittellage ("Off In The Blue"), wahlweise eine kehlige ("Lose You"). Die Hälfte der Tracks bietet Verfremdungs-Effekte auf den Vocals. Insgesamt legt die Platte viel Wert auf die Präsenz der Stimme, aber auch auf Details in den Arrangements, im Spiel aller einzelnen Instrumente, im Mastering und textlich. Auch wenn alle Texte von Verführung, Liebesanbahnung und Beziehungs-(A-)Symmetrie handeln, sind es zum Teil recht gepfefferte Lyrics jenseits der üblichen 1.000 Vokabeln-Wortschätze, mit teils frappierenden Reimen. "Fortune Teller" oder "Can Ya Handle The Heat?" sind gespickt mit großartigen Metaphern, und entsprechend hat Samantha auch wirklich Stoff, den sie gut raus schreien kann.
Die Unterschiede zu ihren letzten Alben (und zwischen denen) liegen auf mehreren Ebenen, der Instrumentierung, den beteiligten (Unter-)Genres, zuletzt Country und Amplifier-Wahnsinn, dem kreativen Vorgehen, der Vorstellung davon, wie ein Album als Kunstform zu sein hat. "Faster" war eher eine Song-Kollektion ohne roten Faden, dafür mit rotem Cover. Jetzt erscheint "Paper Doll" hingegen mehr als eine feste Legierung, die sich durch den treibenden Drive aller Nummern wie von selber so fügt.
Bobby Harlow heißt dieses Mal der Producer. Er entstammt der Garage- und Psychedelic-Szene von Detroit und hatte früher selber mal eine Indie-Rock-Gruppe. Mit Blues kam er 2021/22 bei Dana Fuchs in Berührung, "Borrowed Time" hatte er koproduziert, ein tendenziell schroffes Werk, und bei Samantha legte er schon mal Hand an eine Platte, "Chills & Fever" (2017). Das Gleichgewicht aus Chillen und Lodern hat die 36-Jährige allerdings noch nie so gut eingepegelt wie hier auf "Paper Doll". Es ist ein Song-Lover-Album. Jeder Song trägt seine ganz eigene Couleur, schwingt in einer anderen Stimmung als der Rest. Trotz vieler Verästelungen und Brüche in den Liedern, Schwenks und Wechsel, haben alle Tracks und das komplette Album dann doch wieder etwas Glasklares. Fazit: Anspruchsvoll, aber doch leicht zugänglich, und ein Statement dafür, wie Gitarrenmusik statt Geschrammel und Gedröhne sogar Gemälde im Kopf entstehen lässt.
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