laut.de-Kritik
Kill your darlings!
Review von Philipp KopkaFlashback: Literaturkurs, elfte Klasse. Mit Seidenschal, akkurat gestutztem Schnauzbart und kreisrunder Hornbrille im Gesicht steht mein damaliger Literaturlehrer vor einer gelangweilt dreinblickenden Klasse. Immer wieder intoniert er inbrünstig die wichtigste Regel der Kunst: "Kill your darlings!" In der Literatur, wie auch in allen sonstigen kreativen Bereichen solle sich der Schaffende stets von seinen Lieblingen trennen.
Szenenwechsel: Los Angeles, South Central. Quincy Matthew Hanley hat wahrlich Besseres zu tun, als seine Zeit in der Schule zu verschwenden. Quincys anfänglicher Fleiß bringt ihm zwar das Pseudonym ScHoolboy ein, schon mit zwölf schließt sich der heute 29-Jährige aber den berüchtigten Crips an und beginnt zu dealen. Der Abwärtsstrudel in die Kriminalität nimmt seinen Lauf und endet im Knast.
Man wünscht sich beim Hören von ScHoolboy Qs viertem Studioalbum fast, Hanley hätte damals weiter die Schulbank gedrückt, statt die Gangster-Laufbahn einzuschlagen. Ein gewiefter Pädagoge hätte ihm obige Regel bestimmt genauso eindringlich eingebläut, und Quincy hätte sich beim Aufnehmen der Platte vielleicht daran erinnert. Das Leben ist aber nun mal kein Wunschkonzert. So liefert der Black Hippy mit "Blank Face" zwar sein bisher schlüssigstes, aber auch viel zu opulent ausfallendes Album.
Der oft strapazierte Vergleich mit Crew-Kollege Kendrick greift dabei schon lange zu kurz: Wo das good kid aus der maad city die Engelsflügel spreizt und dem Moloch Compton entschwebt, packt ScHoolboy Q den Dreizack aus und suhlt sich im Morast seines Umfelds. Q ist das Yin zu Kendricks Yang, der gangbangende Konterpart zum moralisch überlegenen King Kendrick.
So prägen auch "Blank Face" hauptsächlich klassische Gangster-Geschichten. Mal liefert Q ein schön dreckiges Hood-Epos ("Ride Out"), mal reminisziert er über die von Waffen und Drogen geprägten Highschool-Jahre ("JoHn Muir"). Nicht nur sein Vortrag klingt dabei äußerst variantenreich, auch die Blickwinkel auf sein Umfeld bieten verschiedenste Facetten: Im einen Moment kann man sich dank des äußerst humorvollen "Dope Dealer" ein Schmunzeln nicht verkneifen, im nächsten holt Quincy mit erschütternd realistischen Beobachtungen einer von Rassismus geprägten Gesellschaft, zum Schlag in die Magengrube aus.
"Neva CHange" wirkt angesichts des schrecklichen Schicksals von Philando Castile, einem schwarzen Jugendlichen, der bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle von einem weißen Polizisten erschossen wird, als er nach seinem Führerschein greifen will, aktueller denn je: "You see them lights get behind us / They pull me out for my priors / Won't let me freeze 'fore they fire / You say that footage a liar."
Der beim Blick auf die Tracklist befürchtete Feature-Überfluss bleibt aus. Trotz der insgesamt 13 Gäste behält Q stets die Oberhand. Besser noch: Das bunt gemischte Ensemble liefert genau das, was es soll: Abwechslung, ohne dem Star das Rampenlicht zu stehlen. Da wäre ein lyrisch zwar begrenzter ("Okay, okay, okay, okay, okay, okay!"), dafür aber um so unterhaltsamerer Kanye auf "THat Part", ein wie Q’s kleiner Bruder wirkender Vince Staples auf "Ride Out", oder eben E-40 mit einem Adlib-Massaker, das dem Humor von "Dope Dealer" keinen Abbruch tut.
Ähnlich verhält es sich mit der Produktion: Von Swizz Beatz, über Southside und Metro Boomin, bis hin zu Tyler The Creator schraubten eine Reihe von Beat-Mechanikern am musikalischen Unterbau der "Blank Face LP" herum. Der klingt nach eingängigem West Coast-Gangsterrap, zeitweise sogar psychedelisch, und dabei stimmiger, als alle bisherigen Alben des South Central-Natives.
Die zwei wesentlichen Veränderungen zu "Oxymoron" bedeuten gleichzeitig Fluch und Segen: Für die mit 17 Tracks deutlich längere Spielzeit liefert Q keine Argumente, dafür beherbergt "Blank Face" neben großartigen Songs zu viele Filler. "Overtime" inklusive tiefsinniger Miguel-Hook ("I wanna fuck right now") schreit förmlich nach Radio-Airplay. Der unerträgliche Trance-Beat von "WHatever You Want" macht den Track genauso überflüssig, wie die schrecklich uninspirierte Hook von "Big Body".
"Kill your darlings!" möchte man Quincy zurufen, denn ohne oben erwähnte Ausuferungen käme die zweite Neuerung wesentlich besser zur Geltung: Gerade "Oxymoron" drohten seine herausstechenden Auskopplungen fast zu überstrahlen, "Blank Face" entfacht dagegen erst bei genauerem Hinhören seine ganze Strahlkraft. So bleibt aber ein bitterer Beigeschmack und der gute Rat an alle Musiker: Eine Albumlänge von zwölf Songs hat nicht umsonst Tradition.
12 Kommentare mit 47 Antworten
Trotz Overtime ein Classic.
Grandioses Album, Overtime und der leider wacke Kanye-Part bleiben die einzigen Wermuts-Tropfen.
Gehört 5/5
P.S.: Den Quatsch mit dem Yin zu Kendricks Yang hätte man echt nicht von Pitchfork abschreiben müssen
Vor allem, weil das schon YG ist, gell
Jo, dann hat es Pitchfork wohl bei Terrace Martin schon geborgt. Passt bei YG halt auch.
für mich das beste ami album seit jahren. hoffe er dreht nochn par videos dazu.
Bisher konnte er mich nie so ganz überzeugen, aber das hier ist tatsächlich AOTY-Material. Weil es so psychedelisch, experimentell, genrefremdgeeignet und schlicht superspannend ist? Möglich wär's.
Tatsächlich 5/5, sollte klar sein.
Hatte jetzt mal Zeit bzw. Lust, mir das hier aufmerksamer zu geben und so langsam growt es glücklicherweise doch. Beim ersten Durchlauf ging es mir ähnlich wie Baude, abzüglich der Psychodelik, da ich die eigentlich mag.
Dennoch gefallen mir die Vorabtracks mit am besten, vielleicht rückt der Rest ja noch nach. By Any Means ist z.B. ein ziemliches Brett mMn.
Ich bleibe bei 3 Punkten. Auf das Eroeffnungstrio kann ich verzichten, ebenso auf 'Dope Dealer', 'Big Body' und die Dinger mit Miguel und Anderson .Paak. Immerhin ist Ab-Soul nicht drauf.
Die beste TDE-Veroeffentlichung seit gkmc ist nach wie vor '90059'.