laut.de-Kritik

Wir konnten Raver und Rocker gleichzeitig sein.

Review von

"Where Do I Start. Where Do I Begin” singt Beth Orton mit ihrer unschuldigen, fast abwenden Folk-Stimme in einem der wenigen ruhigen Momente auf dem epochalen "Dig Your Own Hole". Wo man bei den Chemical Brothers beginnen sollte, dürfte klar sein. Irgendwann in den späten Achtziger und bei qHip Hop. Tom Rowlands, ein sehr weißes Kid aus Manchester, hört "Yo Bum Rush The Show" von Public Enemy rauf und runter und kommt gleichzeitig in Berührung mit dem neuen Sound aus der Hacienda. Einem Club in einem Fabrikgebäude, mit dem "Factory"-Labelchef Tony Wilson zusammen mit New Order wenig Gewinn erwirtschaftet, aber sein ganzes Herzblut reinsteckt.

Alles was später in der britischen Musikszene Rang und Namen hat, tanzt hier mit anderen Feierwütigen die ganze Nacht durch. Mit dem Bus raus aus dem Problemviertel, Ausstieg an der Haltestelle "Hacienda Club" und all die grauen Alltagssorgen vergessen. An diesen Abenden und Nächten gibt es keine Grenzen. Reiche Yuppies zappeln neben Working-Class-Kids, Raver und Rocker zu dröhnendem Bass im Stroboskop-Gewitter. Ähnliche Erfahrungen teilen alle Künstler, die später mit ihren eigenen Bands durchstarten. In dieser Alles Geht-Aufbruch-Stimmung entstehen für die Chemical Brothers ihre eigenen visionären Ideen für das Debüt "Exit Planet Dust".

Noel Gallagher schwärmt noch heute von seinen ersten Drogenerfahrungen und dem kollektiven Rausch. Seine Hymne "Life Forever" entsteht zu einem guten Teil aus diesem Gefühl der Unsterblichkeit. Auf dem Höhepunkt seines Triumphs mit Oasis geht er auf seine Manchester-Kollegen zu und schwärmt ihnen von den frühen Rave-Erfahrungen und der Begeisterung für "Exit Planet Dust" vor.

Dem damals größten Rockstar Englands den Wunsch für ein Gast-Feature auszuschlagen, wäre mächtig dumm gewesen. Über dem lauten Sirenen-Sound von "Setting Sun" liegt sein fast schon abgespacter Vocal-Sound, wie verloren in einem dissoziativen K-Hole-Zustand. Die Lyrics brachte Gallagher noch von einer eigenen Song-Idee mit. Aus seiner rauen Britpop-Nummer "Coming On Strong" entwickeln der Oasis-Boss und die Brüder den Klassiker "Setting Sun". Ein lauter Bastard aus Acid House und Beatles-Psychedelika.

England ist zu dem Zeitpunkt noch auf eine gesunde Art laut und selbstbewusst. Sollen die Yankees doch noch ewig an dem Ende des Grunge-Hypes leiden, aber Bands wie die Chemical Brothers bereiten die Pop-Musik auf das 21. Jahrhundert vor. Die erste Single "Setting Sun" stürmt auf Platz eins, verdrängt die unerträgliche Pop-Radio-Nummer "Breakfast At Tiffanys" und macht die unscheinbaren Studenten-Typen Tom Rowlands und Ed Simons über Nacht endgültig zu Stars. Zwei absolute Musik-Nerds, die Jahre vorher noch mit billigem Equipment unzählige Vinyl-Platten anhörten und sie für ihre Samples benutzten, entern nun die Festivals und bauen auf ihren Live-Shows mehr Lautsprecher als Motörhead auf.

Spätestens wenn "Block Rockin' Beats" ertönt, kreischen die Kids begeistert auf. Der berühmte Bass-Lick stammt von den Crusaders, einer fast vergessenen Jazz--Funk-Gruppe aus den Siebzigern, die jedoch unter Musikern sehr populär war.

Die Ahnensuche dieses Neunziger-Dance-Krachers geht also durch die Jahrzehnte und quer durch die Genres zurück. Der vermeintliche Sirenen-Sound ist ein verzerrtes Vocal von einer Hip Hop-Jam-Aufnahme. Das "We Are Ready For Rock Steady"-Sample. Einem Radiomitschnitt aus einer älteren Radio-Sendung von Africa Islam und Schooly D, der auch im Intro "Another One Of Those Block Rocking Beats" ankündigt. Allein in diesem Song finden sich unzählige Puzzle-Teile und wahrscheinlich immer noch unentdeckte Splitter aus den vorangehenden Jahrzehnten. Dass die Menschen auf den Tanzflächen das wussten, ist wohl eher unwahrscheinlich. Worüber kann man noch nachdenken, wenn einen gefühlt gerade Überschallflugzeug bombardiert und man inmitten eines War Of Sound-Inferno befindet.

Tanzen, gleichzeitig B-Boy-Moves performen und dazu eine Vorstadt in Schutt und Asche verwandelten! Heute ist die "Everything Everywhere All At Once"-Einstellung längst durch TikTok allgegenwärtig, aber so einen Ritt durch alle Genres und Zeiten war für die End-Neunziger ungewöhnlich und sprach trotzdem auch den Mainstream an. DJ Shadow ging mit seinem Sample-Meisterwerk "Entroducing" ähnlich vor, aber blieb dabei vorwiegend ein Nerd-Thema. Die Chemical Brothers spielen schon bald große Headliner-Slots auf Festivals, wo abgehalfterte Alt-Stars das Publikum zu Tode langweilen.

Wir konnten durch die Brothers alles sein. Rocker, die ravten oder Raver, die ihr psychedelisches High nun nicht von miesen Drogen auf Goa-Partys bekamen. Alle lagen sich zum Final-Track "The Private Psychedelic Reel" einfach nur in den Armen, waren immer noch verdammt jung und dachten, dass ohne musikalische und politische Grenzen absolut nichts und niemand uns jetzt noch aufhält. Ein paar unfassbare Terroranschläge und Krisen später wirkt "Dig Your Own Hole" in seiner übereuphorischen Zukunftswilligkeit wie ein unwirkliches Dokument aus einer vergessenen Epoche.

Zum 25 jährigen Jubiläum erscheint in diesen Tagen einer Anniversary-Auflage mit fünf unveröffentlichten Tracks.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Block Rockin' Beats
  2. 2. Dig Your Own Hole
  3. 3. Elektrobank
  4. 4. Piku
  5. 5. Setting Sun
  6. 6. It Doesn't Matter
  7. 7. Don't Stop The Rock
  8. 8. Get Up On It Like This
  9. 9. Lost In The K-Hole
  10. 10. Where Do I Begin
  11. 11. The Private Psychedelic Reel

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