laut.de-Kritik
Welthits aus einem "total verrückten Familienurlaub."
Review von Martin Mengele1987 war ein gutes Jahr für die Popmusik. Nirvana und Public Enemy wurden gegründet, Modern Talking lösten sich auf und The Cure brachten ihr erstes Doppelalbum "Kiss Me Kiss Me Kiss Me" heraus. Mit den Singles "Inbetween Days" und "Close To Me" aus dem Vorgängeralbum "The Head On The Door" und dem 1986er Re-Release von "Boys Don't Cry" sahen sich die Briten plötzlich einem Riesenpublikum gegenüber.
So war es schier unmöglich, für die kommenden Aufnahmesessions ein ruhiges Plätzchen zu finden. Im Sommer 1986 hielt sich die Band noch in Frankreich auf, um den Konzertfilm "Live In Orange" aufzunehmen und die Singles-Collection "Standing On The Beach" zu promoten. Man zog sich kurzentschlossen ins Chateau Miraval in der Provence zurück, wo der französische Jazzpianist Jacques Loussier ein Studio eingerichtet hatte, inklusive eigenem Weinberg. Der trinkfesten Band kam das sehr entgegen und noch heute erinnert sich Robert Smith gerne an diese Zeit als "total verrückten Familienurlaub".
Erstmals gab Smith das Heft des Songwritings teilweise aus der Hand und die Bandmitglieder steuerten fleißig ihre Tapes zur Ideenfindung bei. Schnell zeichnete sich ab, dass man sich dieses Mal nicht mit einer einzigen Vinylscheibe zufrieden geben konnte, denn Smith und seine Mannen hatten um die 40 Songs zusammengetragen.
Unter dem Arbeitstitel "One Million Virgins" entstanden so 27 Rohfassungen. Die Band selbst befand sich zu jener Zeit in einer ihrer dunkleren Phasen, fühlte sich aber trotzdem extrem experimentierfreudig. Vor allem ging es darum, das elende Grufti-Image abzulegen, wofür Smith anlässlich der Filmarbeiten zu "Live In Orange" seine Trauerweidenfrisur einem GI-Schnitt opferte.
Die nähere Cure-Familie (Frauen und Freundinnen) wurde nach Miraval eingeflogen, um direkt am Enstehungsprozess teilzunehmen. Die bislang aufgenommenen Songs wurden der weiblichen Jury sogar vorgespielt, um zu ergründen, welche der Songs Hitqualität aufweisen. Nach drei Monaten Miraval schafften es schließlich 18 Tracks auf die Doppel-LP und zusätzliche sechs Stücke als B-Seiten auf die folgenden Singles.
Das Ergebnis war das vorliegende 1987er-Album, worauf The Cure mit bis dato ungekanntem Facettenreichtum beeindruckten. Die Hinzunahme neuer Instrumente und die teilweise unkonventionellen Songstrukturen stießen dem einen oder anderen Fan im schwarzen Outfit sauer auf.
So findet sich beispielsweise ein funky Saxophon auf "Hey You", welches bei "Icing Sugar" eher in die Jazzecke tendiert. Hier schmiegt sich psychedelischer Düsterrock ("The Kiss") an exzentrischem Funkpop ("Hot Hot Hot!!!"). Tanzbodenbrenner mit Welthitqualität ("Why Can't I Be You") werden von orientalisch anmutenden Boudoirballaden ("If Only Tonight We Could Sleep") gezähmt. Melancholische Liebeslieder ("How Beautiful You Are") umarmen sperrige Rocksongs ("All I Want"). Gekrönt wird das Album vom wahrscheinlich schönsten Popsong aller Zeiten in Gestalt von "Just Like Heaven", Robert Smiths Liebeserklärung an seine langjährige Freundin Mary Poole.
Aber das Album stellt auch einen Wendepunkt in der Bandgeschichte dar. The Cure-Gründungsmitglied Lol Tolhurst soll während der Aufnahmen in Miraval nur seinen diversen Abhängigkeiten gefrönt und zur Entstehung der Platte wenig beigetragen haben. Die Lyrics zu "Shiver And Shake" stellen die endgültige Abrechnung zwischen Robert und Lol dar.
Gerüchten zufolge soll Robert ihm die Anweisung gegeben haben, beim Einsingen des Songs immer mit im Studio anwesend zu sein, damit dem Sänger das passende Ekelgefühl für die Intonation überkäme. Es war die vorletzte Album-Zusammenarbeit der beiden ehemaligen Jugendfreunde, die Anfang der 90er im Streit vor dem Kadi endete.
Im Zuge der Wiederveröffentlichungen der Cure-Klassiker sieht es so aus, als würde auch 2006 ein gutes Jahr für die Popmusik werden. "Kiss Me Kiss Me Kiss Me" erfuhr jetzt ebenfalls ein komplettes digitales Remastering. Die über die Jahre erweiterte Kapazität der CD wurde ausgenützt und so findet sich erstmals auch "Hey You" mit auf der Platte.
Dazu gibt es eine zweite CD, die den gesamten Aufnahmeprozess vom einfachen Homerecording-Demo bis zur Studiorohfassung spannend dokumentiert. Zusätzlich zu den Demos gibt es noch einige Live-Songs von Bootlegs der 87er Kissing-Tour in erstaunlich guter Qualität.
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Meisterwerk
jep!