laut.de-Kritik
Grundschulwissen für Alternative Rock-Fans.
Review von Tom KüppersR.E.M., Hüsker Dü und The Replacements. Die heilige Dreifaltigkeit des frühen amerikanischen Alternative Rock. Heute ist dieser Begriff nicht mehr als eine Worthülse, ein gefälliger Genreschirm, unter den die Chili Peppers genau so passen wie Radiohead.
Anfang der Achtziger Jahre jedoch paarten sich die Überreste von Punk und Rock mit der Energie des damals noch jungen Hardcore zu einer tatsächlichen Alternative zu dem Einheitsbrei, den die Radios und Zeitschriften als Rock'n'Roll ausgeben. Im Musikbiz gilt ohnehin immer, egal wann, wie, und wo die gleiche Regel: Wenn du brav machst, was andere sagen, wirst du möglicherweise irgendwann mal ein Star. The Replacements sind die fleischgewordene Anti-These dazu.
Wo sich (um beim Trinitas zu bleiben) R.E.M. zu einer der bekanntesten Bands der Erde entwickelt und Hüsker Dü längst die Rolle der Hardcore-Pioniere eingenommen haben, sind The Replacements immer noch wie ein kleines, lieb gewonnenes Geheimnis, das nur die wenigsten wirklich verstehen. Speziell um die Live-Shows der 1979 in Minneapolis gegründeten Band ranken sich jede Menge Legenden.
Wie die von den zwei Songs bei Saturday Night Live, nach denen die schwer von diversen Substanzen gezeichnete Band mit lebenslangem Auftrittsverbot belegt wird. Wenn sich hoher Besuch der Musikindustrie zu einer Show ankündigt, besaufen sich Sänger Paul Westerberg, Bassist Tommy Stinson (später bei Guns’n’Roses), sein Bruder Bob an der Gitarre und Drummer Chris Mars auch schon mal so richtig, um den ganzen Abend ausschließlich mit unterirdischen Coverversionen zu bestreiten. Tommy Stinson behauptet Jahre später sogar, es existieren gar keine brauchbare Aufnahmen. Abgesehen von dem nur auf Kassette veröffentlichtem und passend betitelten "The Shit Hits The Fans". Und überhaupt, man wäre sowieso immer viel zu sehr auf allem drauf gewesen.
Kenner der Materie rümpfen bei dieser Aussage die Nase, da schon seit Ewigkeiten ein bei weitem nicht optimaler, aber brauchbarer 24-Spur-Bootleg aus dem Februar 1986 kursiert, bei dem sich die Band in geradezu bestechender Form durch ein Best-Of ihrer ersten vier Alben prügelt. Dieser Mitschnitt erblickt nun unter dem Titel "For Sale: Live At Maxwell's 1986" in deutlich verbessertem Klang endlich das offizielle Licht der Welt. Wer sich von jeder Menge falscher Töne, knackender Kabel, Diskussionen mit dem Personal oder Rückkopplungen nicht abschrecken lässt, bekommt zur Belohnung eine absolut fesselnde Zeitreise, die klärt, woher die Goo Goo Dolls oder The Gaslight Anthem eigentlich ihre Ideen haben.
Mit "Geniuses act like idiots, Idiots act like geniuses", der ersten Zeile des Abends liefert Westerberg eine perfekte Steilvorlage. Denn die Band pendelt kontinuierlich zwischen diesen beiden Extremen. Die verstimmte Gitarre bei "Answering Machine" ist grenzwertig, "Nowhere Man" ist nicht nur für Beatles-Die-Hards eine Qual, und eigentlich kommt kein einziger Song ohne kapitale Verspieler aus.
Hochglanz geht völlig anders, schon die Opener "Heyday" und "Color Me Impressed" drohen komplett auseinander zu fliegen, aber genau dieser Tanz auf der Rasierklinge macht eben einen großen Teil der Faszination dieser Band aus. Da schreit jemand schon nach wenigen Minuten nach "Fox On The Run" von Sweet? Klar, die Nummer metzeln wir gerne für dich nieder und versägen direkt den ersten Akkord.
Es geht aber auch anders. Die Versionen von Hits der Marke "Bastards Of Young", "I Will Dare" oder "Tommy Gets His Tonsils Out" sind schlichtweg grandios, "Takin A Ride" und "God Damn Job" (einer Rarität von der "Stink"-EP) haben beinahe Hardcore-Qualität, bei dem melancholischen "Unsatisfied" leidet Westerberg jede einzelne Silbe, wie er und Stinson dann ihre Gitaren bei "Kiss Me On The Bus" miteinander verweben hat allerhöchstes Stones-Niveau. Insgesamt ein absolut göttliches Chaos.
Und trotz aller offensichtlichen Mängel ist "For Sale: Live At Maxwell's 1986" besser und mitreißender als 95 Prozent dessen, was uns heute als Rock, Punk oder gar Alternative verkauft werden soll. Warum? Weil Songs von dieser Qualität genauso wie derart kompromisslose und vor allem individuelle Künstler rar geworden sind. Leider.
1 Kommentar
"Let it be" oder "Tim" wären schon mal ein Meilenstein wert.