laut.de-Kritik
Filmreife Teen-Dramen für die Ewigkeit, komprimiert auf drei Minuten.
Review von Artur SchulzEs gibt diese Songs, die im Ohr bleiben, Jahrzehnte überdauern und scheinbar endlos die Generationen begeistern. Obwohl natürlich jeweils im historischen Kontext verhaftet, umweht sie der Hauch der Zeitlosigkeit. Titel, die immer wieder neu gecovert werden, obwohl die Neuinterpretationen nur selten die Seele des Originals erreichen. Dazu zählt das tränentreibende Drama "Leader Of The Pack" der Band The Shangri Las aus dem Jahr 1964.
Das häufig auch nur als Trio auftretende Quartett schreibt mit nur zwei echten Studioalben Popgeschichte. Mit ihrem ebenfalls "Leader Of The Pack" betitelten Debüt zählen sie zu den erfolgreichsten Acts der Girlgroup-Ära der sechziger Jahre. Die Geschwisterpaare Marge und Mary Ann Ganser sowie Betty und Mary Weiss besuchen im New Yorker Stadtteil Queens dieselbe Schule, freunden sich an und beginnen mit dem gemeinsamen Musikmachen.
1964 wird Produzent George 'Shadow' Morton auf die vielversprechenden Newcomer aufmerksam und erstellt zunächst eine Demoversion der ersten Single "Remember (Walking In The Sand)". Am Klavier sitzt ein noch unbekannter aber aufstrebender junger Pianist: der erst 14-jährige Billy Joel. Doch nur die später überarbeitete Version wird schließlich herausgebracht. Mit durchschlagendem Erfolg: In den Billboard-Charts landet sie auf Platz 5.
Zügig erscheint danach das Debütalbum "Leader Of The Pack". "Remember (Walking In The Sand)" ist selbstredend mit dabei, als Song, den man schon nach dem ersten Hören nicht mehr vergisst. Obwohl dem Genre des Teen-Pop zuzurechnen, besticht er mit seiner ungewöhnlich angelegten Komposition und seinem ausgefeilten Arrangement. Ein sperriges Piano ertönt, lauernde Beats erzeugen Spannung, bis eine zarte Mädchenstimme den seit zwei Jahren zurückliegenden Weggang der großen Liebe beklagt: "My baby went away" seufzt sie, begleitet von einem gefühlvollen Hintergrundchor - sofort steckt man mittendrin im Lieben und Leiden der Teenager-Zeit.
Erwartet man nach dem Intro einen handelsüblichen Refrain, bricht die Nummer hingegen mit sämtlichen herkömmlichen Kriterien. Die Brandung rauscht, Möwengeschrei erklingt, im Hintergrund sorgt Fingerschnippen für den Rhythmus und mittendrin schwelgt die Protagonistin in den Erinnerungen an ihre verblichene Strandromanze. Teen-Opera pur! Und das völlig kitschfrei umgesetzt. Ein Geniestreich des Genres, der atmosphärisch und arrangementtechnisch sogar Anklänge an spätere Lee Hazlewood-Produktionen vorwegnimmt.
Als zweiter Track des Albums erscheint er dann endlich auf der Bildfläche, der titelgebende "Leader Of The Pack". Vordergründig variiert die Nummer die klassische 'Bad Boy meets Innocent Girl'-Thematik. Der Song bedient sich sämtlicher gängigen Klischees, setzt diese aber von Anfang bis Ende originell und hochdramatisch um. Allein das Intro: Das Objekt der Begierde summt selbstvergessen vor sich hin, während die neugierigen Freundinnen herauszufinden versuchen, was eigentlich abgeht mit dem neuen Lover: "Is she really going out with him? - Well, there she is. Let's ask her. Betty, is that Jimmy's ring you're wearing?". Und als Antwort erhalten sie nur ein sinnliches, wissendes: "Mm-hmm". Das muss schließlich genügen!
Geradezu innovativ für damalige Verhältnisse gestaltet sich die Soundkulisse: Das Aufdrehen des Gashahns eines Motorrades findet ebenso seinen Platz wie am Ende des Songs die Geräusche des Unfalls, bei dem der Liebste sein Leben lässt: " I felt so helpless / what could I do?", erklingt die verzweifelte Stimme der Sängerin und hat spätestens hier alle mitfühlenden Hörer auf ihrer Seite. Ein filmreifes Drama in rund drei Minuten überzeugend und mitreißend abzuhandeln, das ist und bleibt das große Vermächtnis der Shangri Las.
Das Album enthält noch eine ganze Reihe weiterer vorzüglicher Tracks. Etwa das verspielt flirtende "Give Him A Great Big Kiss", das erneut wirkungsvoll als Zwiegespräch aufgebaut ist und erst jüngst von Bette Midler wiederbelebt wurde. Als Cover bringt die Band Versionen der Klassiker "Twist And Shout", "Good Night My Love" und "Shout". Auch weitere Titel wie "Maybe" und "Bull Dog" variieren geschickt die Teenbeats der High School Rock'n'Roll-Ära mit bewusst naiv belassenem Jungmädchen-Gesang, der da und dort sogar mit schrägen Tönen aufwarten durfte.
Die Konkurrenz war hochklassig in jenen Jahren. Denn da tummelten sich unter anderem The Dixie Cups ("Chapel Of Love"), The Shirelles ("Will You Still Love Me Tomorrow"), The Chordettes "Lollipop") die von Phil Spector produzierten Ronettes ("Be My Baby") und The Marvelettes ("Please Mr. Postman"). Doch keine dieser und anderer Formationen erreichte den besonderen Status der Shangri Las. Trotz einer nur kurzen Karriere im Olymp der Popmusik.
Denn allein "Remember (Walking In The Sand)" und "Leader Of The Pack" verdichten so einzigartig den Geist einer Ära, in dem kalkuliertes Pop-Geschäft auf echte, unschuldige Naivität traf und in ihren besten Momenten damit Perlen für die Ewigkeit hervorbrachte.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
Komprimiert auf unter 3 Minuten. Grandioses Album und sehr schön verfasster Meilenstein.
Wenn man bei Amazon oder Spotify nach der mp3 Version des Albums sucht bekommt man ja ne Macke... 3-4 mal das Album und immer in anderer Reihenfolge, Titelauswahl und Anzahl.....
The Shangri Las !!!
Leader of the Pack: Damals verstand ich kein Englisch.
Aber die Songmelodie kam voll rüber und erwischte einen.
Rückblickend ist die 45´er Ursong-Schallplatte am besten.