laut.de-Kritik
Bills dünnes Stimmchen gegen eine Monsterarmee unseliger Effekte.
Review von Sven KabelitzAbschalten. Neustart. Eben diesen Schritt haben Tokio Hotel mit ihrem neuen Album gewagt. Bewusst stoßen die Mittzwanziger ihre verbliebenen Altfans vor den Kopf. Nur noch wenig erinnert an den arglosen Gitarren-Pop, mit dem sie sich zugleich als Teenageridole und Feindbilder etablierten. Heute setzt die Band auf elektronische Frickeleien und englische Texte.
Im gleichen Atemzug schaffen sie Lolek und Bolek, die schon immer im Schatten der Kaulitz-Brüder standen, ab. Auf den Fotos und in den Videos dürfen Fix und Foxi noch düster in die Kamera blicken, auf "Kings Of Suburbia" finden Bass und Schlagzeug jedoch nur noch selten statt.
Mit der Vorabsingle "Love Who Loves You Back" gelingt Bill, Tom, Cap und Capper etwas, womit kaum zu rechnen war: Perlender Champagner-Pop. Eine schlanke und elegante Nichtigkeit, nicht sonderlich aufregend, aber hochgradig eingängig und blitzsauber produziert. Stände auf dem Cover der Name Empire Of The Sun oder Midnight Juggernauts, würde so manch einer, der sich momentan das Maul zerreißt, den Track bis zum Abwinken abfeiern.
"Run, Run, Run" klingt wie eine frühe Radiohead-B-Seite mit einem ebenso rührseligen wie dilettantischen Matthew Bellamy-Text. "Tell me how you close the door / No one, nobody can love you more." Nur vom Klavier begleitet, imitiert der pathetische Bill mit schräger und leicht unangenehmer Kopfstimme große Gefühle und große Kunst. Letztendlich fehlt dem Stück nur der Feinschliff, Spannung und Brillanz, um einen Kehrtwende im Tokio Hotel-Universum einzuleiten. Das ist mehr, als man je zuvor von einem Song der beiden Zwillinge behaupten konnte.
Doch "Girl Got A Gun" stampft jede Hoffnung auf Besserung ungespitzt in den Boden. Inspiriert von Lady Gaga und Scheiße erschaffen Tokio Hotel eine Abscheulichkeit aus Autotune, Fernost-Anleihen, billigen Dubstep-Einflüssen und gestriger Effekthascherei. Um diesen Ohrenbluter komplett zu machen, gesellt sich Lyrik-Diarrhoe der übelsten Sorte hinzu. "Girl got a gun / Girl got a gun, gun, gun / Girl got a gun / Girl got a gun / Bang! Bang!" Das wäre selbst Alexander Marcus zu hohl. Musikalisches Waterboarding, das ohne Anlauf zu nehmen den bisherigen Favoriten "Isso" vom Thron des schlechtesten Songs des Jahres 2014 stößt.
Leider orientieren sich die restlichen Lieder auf "Kings Of Suburbia" mehr an "Girl Got A Gun", als an "Run, Run, Run" und "Love Who Loves You Back". Immer wieder kämpft Bills kleines dünnes Stimmchen gegen eine Monsterarmee unseliger Effekte, bis kaum noch etwas Menschliches von ihr übrig bleibt.
Selbst an sich vermeidlich vernünftige Ideen walzt die Produktion schonungslos platt. In "Stormy Weather" versuchen sich die Kaulitze, Schulze und Schultze an einer Hello Kitty-Version eines Linkin Park-Songs inklusive Bass Drop. Das Titelstück "Kings Of Suburbia" vermischt zu einem entsetzlich dünnen Sound gleich mehrere Pop-Klischees der 1980er. Eine ranzige Mixtur aus Alphaville, Tears For Fears "Shout" und Depeche Modes "People Are People"-Beat. Zum Abschluss zitiert Bill noch munter Martin L. Gores altehrwürdiges "Never Let Me Down Again"-Finale. Dessen "See the stars, they're shining bright / Everything's alright tonight" wird kurzerhand in "Join me under diamond skies / Everything will be alright" umgetextet.
Überhaupt findet sich nichts Eigenständiges auf Longplayer Nummer vier. Leichtsinnig tauschen Tokio Hotel ihren früheren zweifelhaften Wiedererkennungswert gegen ein großes Nichts, das sie nie zu füllen wissen. Selbst in einem eng abgesteckten Dance-Pop-Umfeld hinkt "Kings Of Suburbia" seiner Konkurrenz mit einem vorgekauten Musikbrei aus angestaubten Versatzstücken um Jahre hinterher. Alles Schlechte auf dieser Platte gab es schon an anderer Stelle in besser. Hinter den Titeln "Feel It All" und "Never Let You Down" verstecken sich zwei seelenlose und schwachbrüstige David Guetta-Stampfer. "Louder Than Love" vermischt den 30 Seconds To Mars-Größenwahn mit Coldplays "Ohohoh"-Vokalschleifen.
Eineinhalb verblüffend unpeinliche Songs reichen nicht für eine gelungenen Reinkarnation. Mehr noch als ihre ersten Alben zeigt diese fade Geisterbahnfahrt, dass das Talent für einen geglückten Kurswechsel schlichtweg fehlt. Die Chance auf einen Neuanfang haben Tokio Hotel mit "Kings Of Suburbia" trotz guter Ansätze gehörig versemmelt. Die neuen Kleider der Vorstadtkönige sitzen nicht, die Krone hängt ihnen schief ins Gesicht. Sollten die alten Anhänger den neuen Weg nicht mitgehen, bleibt ihnen bis zum nächsten Reboot nur noch der Groll ihrer Hater übrig. Georg und Gustav interessiert das freilich wenig, da sich eh niemand ihre Gesichter und Namen merken kann.
46 Kommentare mit 247 Antworten
"Inspiriert von Lady Gaga und Scheiße [...]"
es gibt einen lady gaga song, der "scheisse" heisst.
"Inspiriert von Lady Gaga und Lady Gaga"
Ein wirklich schönes Zitat und eine unglaublich grandiose Kritik. Dankeschön!
Stimmt. Hervorragend!
"Doch "Girl Got A Gun" stampft jede Hoffnung auf Besserung ungespitzt in den Boden. Inspiriert von Lady Gaga und Scheiße erschaffen Tokio Hotel eine Abscheulichkeit aus Autotune, Fernost-Anleihen, billigen Dubstep-Einflüssen und gestriger Effekthascherei. Um diesen Ohrenbluter komplett zu machen, gesellt sich Lyrik-Diarrhoe der übelsten Sorte hinzu. "Girl got a gun / Girl got a gun, gun, gun / Girl got a gun / Girl got a gun / Bang! Bang!" Das wäre selbst Alexander Marcus zu hohl. Musikalisches Waterboarding, das ohne Anlauf zu nehmen den bisherigen Favoriten "Isso" vom Thron des schlechtesten Songs des Jahres 2014 stößt."
Das gehört denitiv in die Top Ten der besten Rezi-Abschnitte ever.
große poesie, damit hat sich kabelwitz selbst ein denkmal gesetzt
Vor allem "Musikalisches Waterboarding"
Das hat er aber vom Kollegen Daniel Fromm aus der Busdriver Rezi geborgt und etwas umgedeutet
Daniel? Jetzt wird's mir hier zu bunt.
http://vimeo.com/3957698
Hach.. muss ich mal wieder hören
... und jetzt zurücklehnen und auf Kommando Feuerschwanz warten ...
Gruß
Skywise
Boah, ist das schlecht. Sie haben genug Geld um sich Musikalisch selbst zu verwirklichen, bevor ich aber einen riesen haufen gequirtlen Schrott in die Öffentlichkeit absonder, hätten Sie sich das Album besser sparen können.
Gute Rezension! Genau das mit dem perlenden Champagnerpop in der Vorabsingle (der neutral gehört sogar ganz gut klingt, auch wenns nicht zu einer Möchtegernrockband passt) dachte ich mir auch, aber der Rest des Albums ist ja nur kompletter Dünnschiss, ums mal so drastisch auszudrücken.
^^