laut.de-Kritik

Wie von einem anderen Stern: U2s düsteres Glamour-Album.

Review von

Wenn U2 eines bis 1991 nicht waren, dann glamourös. Passte einfach nicht zu einer 80er Rockband mit ernster Botschaft. Einher ging ein einziges optisches PR-Desaster: Der atypische Pferdeschwanz-Hippie mit Cowboyhut an der Gitarre, daneben der unscheinbare Nickelbrillenbassist und vorne natürlich der gestenverliebte Bono mit Kreuzketten und segnenden Papstgesten. Aus Larry Mullen hätte man zwar was machen können, aber der war halt nur der Drummer.

Ob U2 künstlerisch ähnlich schnell verglüht wären wie die sozialkritischen Kollegen von Midnight Oil, hätten sie 1991 mit "Achtung Baby" nicht völlig mit allem Vorherigen gebrochen, wird man nie erfahren. Stattdessen schlug Midnight Oil-Sänger Peter Garrett einen Weg ein, den man 1989 wahrscheinlich eher Bono zugetraut hätte: Er wurde Minister für Umwelt in seiner Heimat Australien.

U2 hingegen hatten nach zehn Jahren Weltretten den Kanal voll, zumindest Bono und The Edge. Befeuert vom Rhythmus der Madchester-Welle setzten sie sich neue Ziele, Nine Inch Nails und die Neubauten kursierten als weitere Einflüsse, die man verarbeiten wollte. Bassist Clayton und Drummer Mullen zeigten sich gelinde gesagt entsetzt, letzterer rückte nicht ab von seinen Classic Rock-Hörgewohnheiten.

Bono hat wahrscheinlich recht, wenn er zwanzig Jahre später erklärt, dass die Gruppe trotz dieser scheinbar unverrückbaren Positionen aus dieser Periode nur aufgrund ihrer langen Freundschaft heil herausgekommen ist. Irgendwann erkannte auch die frustrierte Drum'n'Bass-Fraktion, dass die stark elektronischen Demos der Kollegen den Ausweg aus der Bluesrock-Sackgasse darstellten, in die man mit "Rattle & Hum" hineingeschlittert war.

Erst nach langen Jam-Sessions kristallierte sich aus diesem dekadenten Lärm ein Song nach dem anderen heraus, verschmolzen Trashbeats mit federnden Basslinien und führten simple Melodien in komplexe Arrangements.

Gleich "Zoo Station" klang wie von einem anderen Stern: Das sägende Eröffnungsriff, massiv verzerrt, musste alten "Joshua Tree"-Hörern das Blut in den Adern gefrieren. Auch Bono ist zunächst kaum zu erkennen, als wollte er sein für messianische Zwecke so geeignetes Organ verstecken.

"Time is a train / makes the future the past / leaves you standing in the station / your face pressed up against the glass": U2 waren eindeutig drin im Zug, während alte Konkurrenten wie die Simple Minds und INXS nicht vom Bahnsteig abgeholt wurden und allmählich der Vergessenheit entgegendämmerten.

Nach dem vor Ehrfurcht triefenden "Rattle & Hum" hatten U2 endlich wieder zu einer eigenen Stimme gefunden. Nachweisbar mitschuldig an dem neuen Sound ist Produzent Brian Eno, dessen Studioauftrag es nach eigenen Worten gewesen sei, "alles zu löschen, was zu sehr nach U2 klang".

Höchstens beim "Joshua"-Atem versprühenden "Who's Gonna Ride Your Wild Horses" dürfte Eno da etwas nachlässig agiert haben. Ansonsten regiert Abenteuerlust, die in erster Linie dem wie entfesselt spielenden The Edge zuzuschreiben ist, der nach seiner Trennung von Frau und drei Kindern Höllenqualen litt.

In "Even Better Than The Real Thing" und "The Fly" glühen die Effektgeräte bis zum Anschlag, das mit relaxten Congas beginnende "Mysterious Ways" stürzt er mit Verve in einen polyrhythmischen Funk. Insgesamt beeindruckt vor allem sein Mut zum Minimalismus, der seine Perfektion im dröhnenden Anti-Solo des waidwunden Schlusspunkts "Love Is Blindness" erfährt.

Das federnde "Tryin To Throw Your Arms Around The World" sowie das vor Feelgood-Pop strotzdende "Ultra Violet (Light My Way)" samt ironischem "Baby Baby Baby"-Refrain zählen zu den wenigen Lichtblicken eines ansonsten eher schattigen Albums. "So Cruel" steht exemplarisch für die intimsten Songzeilen der Songwriter Bono und The Edge. "I disappeared in you / you disappeared from me / I gave you everything you ever wanted / wasn't what you wanted" zählt noch zu den gemäßigten Stellen, anderswo heißt es: "The men who love you / you hate the most."

Umschlungen wird der Text von einem simplen Klaviermotiv, etwas Percussion und einem elektronisch verstärkten Drumsound, dessen metallischer Klang ein Markenzeichen der Platte ist.

Doch es sollte die postmoderne Bluesballade "One" sein, von der man seit 20 Jahren als Ausnahmetrack des Albums spricht. Ein Song über Trennungen, der dennoch gerade in Deutschland zu den meistgespielten Songs auf Hochzeiten zählt. Dieses Kuriosum verdankt er seiner hymnischen musikalischen Umsetzung und Bonos rührend-intensivem Vortrag, dem etwas Unumstößliches, Ewigwährendes innewohnt.

"Achtung Baby" zählt bis heute zu den erfolgreichsten musikalischen Neuerfindungen etablierter Bands und steht damit auf einer Linie mit dem "White Album" der Beatles und David Bowies "Low".

Die Platte machte U2 zu echten Rock'n'Roll-Helden und es schien nach den bahnbrechenden Multimedia-Welttourneen "Zoo-TV" und "Zooropa" undenkbar, dass das Quartett aufgrund der karitativen Arbeit ihres Frontmannes irgendwann wieder zur Zielscheibe allgemeinen Spotts geraten würde. Der Einfluss dieses Albums auf die Rockgeschichte bleibt dennoch unbestritten. Spätestens das Cover-Album zum 20-jährigen Jubiläum mit den Teilnehmern Nine Inch Nails, Depeche Mode und Jack White adelt dieses Verdienst.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Zoo Station
  2. 2. Even Better Than The Real Thing
  3. 3. One
  4. 4. Until The End Of The World
  5. 5. Who's Gonna Ride Your Wild Horses
  6. 6. So Cruel
  7. 7. The Fly
  8. 8. Mysterious Ways
  9. 9. Tryin To Throw Your Arms Around The World
  10. 10. Ultra Violet (Light My Way)
  11. 11. Acrobat
  12. 12. Love Is Blindness

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LAUT.DE-PORTRÄT U2

Die 80er und 90er Jahre sind aus musikalischer Sicht ohne sie undenkbar, ebenso Live Aid 1985 oder der Begriff Stadionrock. Sie kollaborierten mit B.B.

51 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 13 Jahren

    Wieso gabs so viele gute Alben im Jahr 1991 was war in diesem Jahr los kann mir das mal bitte einer erklären ?

  • Vor 13 Jahren

    @Rhyme!: Aufbruchstimmung und der Wille zur Veränderung, nachdem man die 80er Jahre hintersich gelassen hat. Die Musik der folgenden Jahre unterschied sich sehr stark von der Musik vor 1991.
    ONTOPIC: man hätte auch "The Joshua Tree" wählen können (wurde Ende der 80er von sämtlichen nennenswerten Musikzeitschriften unter die 10 besten Alben des Jahrzehnts gewählt), aber auch "Achtung Baby" ist OK.
    "One" war mein erster Liebeskummer-Song. ^^

  • Vor 13 Jahren

    das war kla bei der großen wiederveroeffentlichung naechste woche. U2 war immer die unwichtigste band schlechthin. schon allein dieses falsche engagement von bobo. wiederlich ! eins zwei nummern fand ich aber recht gut. nichtsdestotrotz eine band die wirklich niemand auf der welt brauch.

    ps: wie zum teufel hat es the edge geschaftt in den film "it might get loud" zu gelangen? haetten lieber einen anderen nehmen sollen/muessen.

  • Vor 3 Jahren

    Dieses Album hat mich damals zum U2 Fan werden lassen. Zurecht ist es immer noch ein Meilenstein und eines meiner Top10 Alben ever.

    Was dann später mit U2 passiert ist... Naja... mein "Fan sein" kühlte langsam ab und geht jetzt gegen 0...

    Aber Achtung Baby, Zooropa und POP - das war ne geile Zeit!

  • Vor 3 Jahren

    Ein Jahrhundert-Album! Auch die dazugehörige Tour war episch, durfte ich im Müngersdorfer Station bestaunen. Als Die-Hard-Fan damals habe ich mir sogar diese Ringe vom Cover machen lassen. :) Vorgruppe waren die Toten Hosen, btw.

    Tausendfach gehört: 6/5 (bald mal wieder ein Durchlauf fällig)

  • Vor einem Jahr

    Seltsame Wahl für nen U2-Meilenstein: Joshua Tree hat nicht nur mehr Leute interessiert, sondern war in seiner Zeit ein echter Donnerschlag weit über die Musikwelt hinaus und für die Band ein echter Meilenstein (auch wenn sie nicht zuletzt Bono endgültig den Weg zum Welt-Laienprediger geebnet hat, kotz). Hier klingt mir zu vieles zu gewollt, nach Anbiederung an den Zeitgeist, nicht echt, von Herzen kommend. Mehr was für Kritiker, die U2 eigentlich nicht abkönnen ( was, s. Bono, durchaus erlaubt ist) bzw, das nicht zugeben wollen und dann halt die untypischte Scheibe zum Goldstandard erklären...