laut.de-Kritik

Große Song-Kunst vom Fels in der Schlager-Brandung.

Review von

Unter den 15 Kompositionen von "Einfach Ich" findet sich kein Song, der einen zeitgemäßen (was immer das auch sein mag!) Single-Hit abgeben würde. Dafür sind die Arbeiten, was Dichte und Intensität angeht, als solches ein derart funkelndes Song-Schatz-Kompendium, das am besten als Ganzes funktioniert, sich gegenseitig ergänzt, miteinander korrespondiert und sich untereinander aufbaut.

So kultiviert Udo Jürgens in Zeiten des beliebigen Song-Downloads leichthändig und ganz nebenbei eine fast vergessene Tradition: Nämlich die des Konzept-Albums, innerhalb dessen jeder Titel seine ganz besondere Funktion im Gesamtaufbau inne hat. Mit dem kurzen, aber überschäumend bunt instrumentierten, orchestralem Intro "Fanfare 2008" leitet Udo über zu der filigranen und eindrucksvollen, balladesken Selbstreflektion "Einfach Ich".

Piano, samtige, verhaltene Streicher im Hintergrund begleiten die Gedanken des Künstlers zum ganz persönlichen Heute, eingebettet in einen klassischen Song-Aufbau. "Tanz Auf Dem Vulkan" kommt musikalisch als Happy-Nummer daher, kommentiert textlich jedoch bissig das Thema Klimawandel und arbeitet effektiv mit diesen beiden Gegensätzlichkeiten. "Warum Denken Traurig Macht" verbleibt erneut im anrührend nachdenklichen Bereich, der Uptempo-Titel "Nur Die Sieger Steh'n Im Licht" schließt sich diesem Tenor ebenfalls an.

Als pfiffige Mitschnipp-Nummer im besten Achtziger Jahre-Stil überzeugt dann der Neuzeit Hightech-Kommentar "Völlig Vernetzt", bei dem gerade ich als ewiger Technik-Trottel mich bestens aufgehoben fühle: "Ja, völlig vernetzt / Es ist unerträglich / Mein Fax liegt im Sterben / Drum fiepst es so kläglich".

Die Schattenseiten des globalen Allzeit Bereit werden ebenfalls treffend beschrieben: "Komm in die Wunderwelt online / Hier lernst du schnell das Alleinsein". Doch es bleibt gottlob Zeit für ein textlich charmant ausgefeiltes Happy-End: "Nun fragst du auch noch / Ob ich mich zu dir setz' / Ich fürchte / Ich geh' jetzt auch dir ins Netz".

Der für den überwiegenden Teil der Lyrics verantwortliche, langjährige Jürgens-Texter Wolfgang Hofer zeigt auf "Einfach Ich" Höchstform (ebenso wie die übrigen Text-Autoren). Gewisse Beliebigkeiten früherer Jahre weichen intimen, stimmungsvoll ausgearbeiteten und punktgenau gesetzten Emotions-Umsetzungen. Das zeigt sich auch in der von Rainer Thielmann verfassten, warmherzigen und zweisam verliebten Morgenstimmungs-Ballade "Mit Dir": "Der Tag bricht an wie ein Gemälde / Das sich die ersten Farben gönnt".

Oder in der Beobachtung der Flüchtigkeit der Zeit: "Vorm Opernhaus träumen die Tauben / Der Zeitungsmann erklärt die Welt / Es gilt, das Gestern abzustauben / Für eine Handvoll Wechselgeld". Als eins der absoluten Prunkstücke des Albums begeistert die thematisch phantasievoll gewählte Ballade "Wo Finde Ich Dich", glänzend getextet von Thomas Christen.

Was für ein Thema und was für eine Ausführung in Text und Musik! Ein weggeworfenes Foto am Straßenrand, Auslöser für hoffnungsvolle und auch bittere Vermutungen. Udo hebt es auf, und in seinen Betrachtungen entsteht eine ganze Welt voller Fragen, Gedanken, Träumen und (wahrscheinlich) unerfüllbarer Hoffnungen: "Wer wirft ein Lächeln so wie dieses / Einfach achtlos in den Staub / Vergilbte Reifenspurn' wie Narben auf der Haut". Und er fragt: "Wer kann dies Bild zerreißen und dann achtlos weitergehn"? Und sinniert über das Unmögliche aufgrund des Fundes: "Darf ich in einer an'dren Zeit / Was werden könnte, fragen?" Großes Thema, großer Song - ganz großes Kino!

Das leicht countryeske "Letzte Ausfahrt Richtung Liebe" zitiert angenehm den Klassiker "Ich War Noch Niemals In New York" und korrespondiert thematisch mit Kettcars "Die Ausfahrt zum Haus Deiner Eltern": "Da vorne gleich rechts / Da müsste ich raus / Und dann wär' ich bei dir". Auf erwachsenerer Ebene natürlich, doch hie wie da gibt es kein Happy-End. Glück und Trauer sind niemals an ein besonderes Alter gebunden - sie warten stets und geduldig auf jeden, bis dann irgendwann das Schicksal mit seinem Finger auf dich deutet.

Spannend arrangiert zeigt sich "Die Unerfüllten Träume" mit seiner effektvollen Saxophon-Arbeit, Jazz-Einschüben und der Erkenntnis, dass ohne Hunger nach neuen Erfahrungen das Leben nur allzu schnell in Belanglosigkeiten versinkt. Jedoch: "Es liegt Sinn in Deiner Zeit". Ein Teil der neuen Songs wurde in den legendären Abbey Road-Studios aufgenommen. Mit eingebunden in die Aufnahmen: Das London Musicians' Orchestra unter der Leitung von Michael Reed.

"Fehlbilanz" ist die Neufassung eines Songs von Udos Album "Geradeaus" aus dem Jahr 1992. Hier zeigt sich erneut eine besondere Facette des Künstlers: Udo Jürgens fährt nicht einfach simple Remixe früherer Titel auf, sondern er präsentiert lieber frisch arrangierte Neuinterpretationen - hier abermals eindrucksvoll gelungen.

Im Vergleich zur Originalfassung arbeitet der Künstler für seine Verhältnisse geradezu verwegen mit Tempo-Wechseln und verschleppten Beats - und lässt so den Song in neuem Glanz erstrahlen. Textlich ist er ohnehin stets aktuell geblieben: "Zu viele Sterne / die nicht leuchten / zu wenig Herzblut im Kalkül / zu viel Gerede um die Liebe / zu wenig wirkliches Gefühl". Die virtuos-gefühlvoll eingespielte Instrumentalversion des Titelthemas beschließt "Einfach Ich" dann mit einem bewegend ausgeführten Alben-Ende.

"Einfach Ich": Old-fashioned, doch nie von gestern; angenehm vertraut; und für den Udo-Kenner hie und da mit neuen, spannenden Akzenten versehen. Songs ohne effektheischende, perfekte Wellen oder brutal in Ghettos krachende Monde. Dafür intensive Momentaufnahmen alltäglicher Kleinigkeiten und versteckter Intimitäten des Lebens.

Gefühle und Gedanken über eine neue Liebe am Morgen eines anbrechenden Tages, quälende Selbstzweifel, Traumtänzer-Ausbruchsversuche, ewige Erkenntnisse und unvergessliche, einzigartige Momente, gegossen in Udo Jürgens-typische, zeitlose Kompositionen.

In meinem ganz privaten Udo Jürgens Song-Schatzkästlein ist stets genügend Platz für neue Lieder. Neben alten Lieblingen finden so "Einfach Ich" und "Wo Finde Ich Dich" ihren verdienten Platz. Hat Udo jetzt womöglich gar eine Art abschließendes Alterswerk vorgelegt? Keine Spur, und: Bitte, bloß jetzt noch nicht!

Für das wirklich große, maßgebliche Alters-Album ist doch noch genügend Zeit. Er ist nun gerade mal junge 73 Jahre alt, dieser fantastische Künstler - und er hat, gerade nach diesem Album, erneut wieder alle Zeit der Welt. Das abschließende Alterswerk kann also warten, und bitte, ihr Götter: Möglichst lang.

Trackliste

  1. 1. Fanfare 2008 (Instrumental)
  2. 2. Einfach Ich
  3. 3. Tanz Auf Dem Vulkan (Freut Euch Des Lebens)
  4. 4. Warum Denken Traurig Macht
  5. 5. Nur Die Sieger Steh'n Im Licht
  6. 6. Nur Ein Liebeslied
  7. 7. Völlig Vernetzt
  8. 8. Stärker Als Wir
  9. 9. Letzte Ausfahrt Richtung Liebe
  10. 10. Die Unerfüllten Träume
  11. 11. Mit Dir
  12. 12. Liebe Will Alles
  13. 13. Wo Finde Ich Dich
  14. 14. Fehlbilanz (Version 2008)
  15. 15. Einfach Ich (Instrumental)

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25 Kommentare

  • Vor 16 Jahren

    Das Album ist klasse und mir sogar fünf Sterne wert. Das ist keine Schlagermusik, also da passt Chanson schon gut. Die Texte der ruhigen Stücke auf dem Album haben unglaubliche Tiefe und die Musik umrahmt sie wie ein Gemälde und singen kann der Udo Jürgens ja. Ein paar schnellere Stücke für die Stimmung sind auch immer mit dabei, wobei sie da manchmal auch wie Weichei etwa zu plump ausfallen, diesmal aber finde ich auch die gut gelungen.
    Der letzte Entertainer, wer ihn noch nicht live gesehen hat, sollte dies unbedingt bei der Tour 2009 tun, es hat schon den mitgeschlepptesten Menschen mitgerissen, weil man da sehen kann, was Musik eigentlich ist und bewegt.

  • Vor 16 Jahren

    @Citizen Erased (« Jürgens ist schon okay, aber gerade Griechischer Wein ist schlimm. Aber das denke ich vielleicht auch nur, weil es zur ultimativen Prollhymne auf jedem Stadtfest verkommen ist. »):

    So gesehen hast du sicher Recht. Aber als geniesser bleibt griechischer Wein als der Ohrwurm schlechthin ein Höhepunkt jeder Jürgens Party. Auf nochmals 75 Jahre... :)

  • Vor 16 Jahren

    @Fear_Of_Music (« wer (der etwas älteren natürlich) kennt nicht noch aus der kindheit "mit 66 jahren" oder auch "aber bitte mit sahne", mit diesen beschwingten fun-schlagern ist er natürlich am meisten bekannt geworden »):

    Da muss man dann aber auch erwaehnen, dass "Aber bitte mit Sahne" textlich noch immer mehr Gehalt hat als jeder Funschlager.